1.2.3 Grußwort des Bürgermeisters der Gemeinde Mutterstadt

Dies ist der ca. 13 000 Einwohner zählende Ort Mutterstadt, der sich durch einen hohen Wohnwert, durch Kultur-, Sport- und exzellente Freizeiteinrichtungen auszeichnet. Bis zur Deportation in das südwestfranzösische Gurs 1940 gab es hier eine jüdische Gemeinde mit zuletzt 52 Mitgliedern. Ab 1942 wurden die in Gurs nicht verstorbenen oder von dort aus ausgewanderten Personen, insgesamt 33 Mutterstadter, in das Vernichtungslager Auschwitz gebracht. Keiner überlebte. Für das Verhalten des nichtjüdischen Mutterstadts, insbesondere für die Mitwirkung u.a. der damaligen Gemeindeverwaltung an der Diskriminierung und der Deportation des jüdischen Bevölkerungsteils entschuldigten sich 2002 der amtierende Bürgermeister Ewald Ledig und die Beigeordneten Konrad Heller, Hans Dieter Schneider sowie die Beigeordnete Rita Bechtel bei den Deportationsopfern, deren Familien und deren Nachkommen.

Verstärkt seit Ende der 1970er Jahren setzt sich in Mutterstadt eine Gedenken- und Versöhnungskultur zu Gunsten des ehemaligen jüdischen Bevölkerungsteils durch. Diese berücksichtigte auch Gedenktage der Synagogenverbrennung 1938 und die Gurs-Deportation 1940. Die erste Maßnahme dieser Art ist obige Anzeige in den deutschlandweit erscheinenden "Israel-Nachrichten" aus dem Jahr 1978. Zuvor beschränkte sich Mutterstadt darauf, bestehende Bundes- und Landesgesetze im Wiedergutmachungssinne entsprechend umzusetzen.

Am 22.10.1940 mussten die Mutterstadter jüdischer Herkunft unter Mitwirkung der Gemeindeverwaltung in Stundenfrist ihre Wohnungen verlassen. Sie wurden zunächst in das südwestfranzösische Deportationslager Gurs und, soweit diese Menschen dort nicht gestorben sind oder auswandern konnten, ab 1942 in das Vernichtungslager Auschwitz in Polen gebracht.

In diesem Zusammenhang wurden 33 Mutterstadter Bürger jüdischer Herkunft getötet.

In einem Presseartikel, also öffentlich, habe ich diese Fakten als die dunkelsten Stunden in der mehr als 1200-jährigen Geschichte von Mutterstadt bezeichnet.

Ab den 1980er Jahren und unter Miteinbeziehung der Protestantischen und Katholischen Kirche sowie dem Historischen Verein der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt, hat sich unser Gemeinwesen im Rahmen der deutschlandweiten Gedenken- und Versöhnungskultur u.a. um die damaligen überlebenden Opfer und ihre Nachkommen gekümmert.

Eine Ausnahme: Anlässlich des 30. Jahrestages der Gründung des Staates Israels, 1978, gab die Gemeindeverwaltung in der jüdischen Zeitung "Israel Nachrichten" eine Anzeige auf, um Israel und den dort wohnenden Persönlichkeiten aus Mutterstadt ihre Referenz zu diesem Jahrestag zu erweisen.

Wir haben hier in Mutterstadt die offiziellen Gedenktage an die Synagogenverbrennung 1938, und die "Gurs-Deportation" 1940, in würdiger Weise begangen, vor allem jedoch im Ehrenhof des Neuen Friedhofes mittels zweier Gedenktafeln an den ehemaligen jüdischen Bevölkerungsteil in angemessener Form erinnert.

Umso erfreulicher ist es für meine Seite festzustellen, dass im Rahmen von zwei Bürgeraktionen und der damit verbundenen Platzierung einer Namens-Gedenktafel und der Internet- und Buchpublikationen "Die ehemalige Mutterstadter jüdische Gemeinde, die Gurs-Deportation 1940 und Auschwitz" in deutscher und englischer Sprache unser Gemeinwesen, einschließlich der ehemaligen jüdischen Gemeinde, in umfangreicher und professioneller Weise dargestellt wird.

Was m. E. besonders zu würdigen ist und damit meine uneingeschränkte Zustimmung findet, sind mehrere Charakteristika dieser Dokumentation:

  • Sie richtet sich u.a. nicht nur an den ehemaligen jüdischen Bevölkerungsteil und ihre Nachkommen, sondern schließt darüber hinaus Mutterstadter jüdischer Herkunft beispielsweise als Mitautoren der Textbeiträge und als Interviewpartner gleichrangig ein, so als seien diese immer noch Teil unserer Bevölkerung, lediglich Abwesende von Mutterstadt.
  • Weiterhin beeindruckt die Absicht der Publikationen u.a. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte in Mutterstadt und all den Gemeinden anzusprechen, die u.a. in der Pfalz vor 1940 einen jüdischen Bevölkerungsteil hatten. Dies im Sinne der Bereitstellung von Informationen in pädagogisch-didaktisch angemessener Weise.
  • Auch halte ich es für richtig, noch auf die Publikation als solches einzugehen: Bürgerinnen und Bürger, Schülerinnen und Schüler können auf objektive, Zusammenhänge erfassende, geschichtliche Informationen bezüglich dem jüdischen Bevölkerungsteil von Mutterstadt genauso zurückgreifen wie auf eine Art "Portrait" der Deportationsopfer, also von Persönlichkeiten wie du und ich. Dies hat den Vorteil, dass 2002 mit Hilfe dieser Informationen kompetenter gegen den latenten und sich wieder stärker äußernden Antisemitismus und Neonazismus argumentiert werden kann.
  • Letztlich danke ich allen Autorinnen und Autoren für ihre Textbeiträge, die in ihrer Gesamtheit ein lebendiges, informatives und geschichtsbezogenes Bild des jüdischen und nichtjüdischen Mutterstadt vor unser geistiges Auge zaubern. Für heute Lebende genauso wie für zukünftige Generationen ergibt sich eine Möglichkeit, sich mit ihrer Heimatgemeinde besser zu identifizieren.

Mutterstadt bedankt sich bei denjenigen Persönlichkeiten, die diese umfangreiche Publikation ermöglicht haben, aber auch u.a. bei unserem Alt-Bundeskanzler Dr. Kohl, dem Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, dem Jewish Joint Distribution Commitee, New York, und dem Holocaust-Museum in Washington für ihre Unterstützerbriefe.

Es gilt jedoch noch eine andere Erklärung abzugeben: Die Diskriminierung des jüdischen Bevölkerungsteils ab 1933 und die Deportation in das südwestfranzösische Lager Gurs 1940, erfolgte mit teils stillschweigender Zustimmung der nichtjüdischen Nachbarn, mit in der NS-Partei aktiven Mutterstadtern. Es schließt dies die Mitwirkung von Gemeinderat und Gemeindeverwaltung ein. Es gab somit Unterstützung dieser Maßnahmen von offizieller Seite.

Insoweit möchte die im Jahre 2002 amtierende Verwaltungsspitze, meine Person, der 1. Beigeordnete Konrad Heller, der 2. Beigeordnete Hans-Dieter Schneider und die 3. Beigeordnete Rita Bechtel in ihren Funktionen sich für die damaligen Ereignisse bei dem jüdischen Bevölkerungsteil entschuldigen. Sie alle sind mit den Aussagen dieses Vorwortes einverstanden.

Autor: Ewald Ledig, Jahrgang 1943, ist hauptamtlicher Bürgermeister der 13 000 Einwohner zählenden Gemeinde Mutterstadt. Ledig ist parteiunabhängig. In den 1990er Jahren ist es u.a. seine Hauptaufgabe, dem schnellen Wachstum des Ortes durch das Umsetzen strategisch wichtiger Investitionen auch im Kultur- und Freizeitbereich Rechnung zu tragen.

Quelle: Siehe Quellenverzeichnis Titel 9 (Nr. 000)
Fotos und Sonstiges, und die dazugehörigen Texte, sowie die Autoren-Kurzbiographie, wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.