2.4.7 Die 2. Synagoge 1904/05 als Erweiterungsbau und deren Einweihung am 30.09.1904. Die Gottesdienstordnung von 1847 und die Lebensumstände jüdischer Menschen im 20. Jahrhundert.

Die Synagoge von 1904/05 in ihrem dörflichen Umfeld. Auf das Jahr 1838 zurückgehend, 1868 teileingestürzt, 1871 anspruchsvoll wiederhergestellt, 1904 bezogen auf das Bauvolumen um 2 Fensterachsen-Längen = 7.00m erweitert und mit einer dem Jugendstil mit byzantinischen Einschlägen nachempfundenen Fassade versehen, repräsentierte das Gotteshaus auch einen bürgerlichen, gewerbefleißigen Bevölkerungsteil mit gestiegenem Selbstvertrauen: assimiliert, dem Reform-Judentum anhängend, sich als Gleiche unter Gleichen verstehend und freundschaftlich mit ihrem nichtjüdischen Umfeld verbunden.

Zwei Kurzberichte der Speyerer Zeitung Nr. 229 vom 30.09.1904, dem Tag der Synagogeneinweihung, und der Nr. 231, in der von einem Einbruch bei der Familie Dellheim berichtet wird. Zum einen zeigt der Einweihungsbericht den völlig normalen Ablauf eines bürgerlichen Festes, zum anderen die auch damals sichtbare Kleinkriminalität, die in diesem Fall die Familie Dellheim traf.

Die Synagogeninnenpespektive von der Oggersheimer Straße aus gesehen. Bankreihen, angeordnet wie in einer Kirche, das Thoravorleserpult mit dem Ewigen Licht und der dahinter liegenden mit einem Vorhang versehenen Thoranische, außerdem links das Pult für die Predigt, entsprechend der Kanzel in christlichen Kirchen sind die Hauptausstattungsmerkmale der Synagoge. Nicht zu vergessen aber auch der siebenarmige Leuchter, die Menora sowie die Namensgedenktafel zu Ehren der zwei im ersten Weltkrieg gefallenen jüdischen Soldaten. Es gab weiterhin einen prächtigen strassbehängten Kronleuchter. Nach Aussagen von Werner Dellheim ergab ganz besonders das diffuse, grünlich eingefärbte Fensterglas mit je vier bunten Bildmotiven pro Fenster, eine feierliche Atmosphäre, die den Gottesdienstbesucher rührte.

Die Synagogenordnung für Mutterstadt 1904. 1857 wurde von der "Königlich-baierischen" Bezirksregierung in Speyer eine pfalzweit geltende Synagogenordnung, die auch Nichtjuden betraf, erlassen. Diese besagt, dass neben allgemeiner Ruhe außerhalb der Synagoge während des Gottesdienstes jede Störung im Innern, z.B. durch Lachen, zu unterlassen sei. Darüberhinaus: "…jede Person, innerlich gesammelt, seinen Platz aufzusuchen habe…". Außerdem:"…das Vortreten an die heilige Lade…" und "…während des Gottesdienstes der heiligen Gesetzeslade den Rücken zuzuwenden…" zu unterbleiben hatte. Kinder konnten nur unter Aufsicht ihrer Lehrer, Männer nur, wenn sie der Frauenempore fernblieben und den Rabbiner nicht öffentlich kritisierten, die Synagoge betreten. Und ganz "baierischer Staat": Der vereidigte Synagogendiener "…hat Zuwiderhandlungen gegen obige Bestimmungen dem einschlägigen Gerichte zur Bestrafung zur Anzeige zu bringen…". Das Foto zeigt die Speyerer, identische Version.

Gehirnwäsche der Nationalsozialisten. Ein 2005 seine Individualität lebender Demokrat muss die Konformität der Hitlerjahre ab den 1920er Jahre bis 1945 sowie die Gleichschaltung aller Emotionen und Wertevorstellungen im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie das Blut in den Adern erstarren lassen. Dieser geballten Macht der fanatisierten NS-Anhängerschaft, die Juden als minderwertige Rasse einzustufen, haben deutsche Bürger jüdischer Herkunft nur wenig entgegenzusetzen. Nach ihrer Entrechtung ab 1933 bis zur Deportation 1940 und ihrer Tötung ab 1942 im Vernichtungslager Auschwitz war die jüdische Hoffnung, in Deutschland Gleiche unter Gleichen zu sein, ausgeträumt.

1. Die Synagogenerweiterung einschließlich der Errichtung einer Jugendstilfassade im Jahre 1904/05.

Bauakten, ein Baudossier oder Architektenpläne der Synagogenerweiterung von 1904 um zwei Fensterachsen und die Errichtung einer dem Jugendstil angelehnten Fassade sind nicht vorhanden, wohl aber Postkartenfotomotive und die Baudetailbeschreibung von Werner Dellheim, Ocala, Florida, USA aus dem Jahr 2003.

Baubezogene detaillierte verbindliche Angaben beispielsweise über die lichte Breite der Synagoge, die Wandstärken, die Fenstergesimsdimensionen gehen aus dem 1871er Baudossier im Zusammenhang mit der Großreparatur an der 1838 erbauten Synagoge hervor. Diese Synagoge von 1838 wurde bezüglich aller Dimensionen und Dachformen 1904 lediglich um zwei Fensterachsen verlängert, also an die bestehende Bausubstanz angebaut.

War aus den Überlegungen der Anpassung an die nichtjüdische Kirchenarchitektur des Jahres 1838 ein mit romanischen Fensterbögen versehener Satteldachbau, mit Ziegeln eingedeckt, erstanden, huldigte man im Jahr 1904, bezogen auf die rautenförmigen Glasfensterornamente und der Fassade zur Oggersheimer Straße hin, dem Jugendstil.

Man wollte aber auch mit Hilfe des kuppelähnlichen Dachreiters und der zwei Ziertürmchen an der Fassade eine orientalisch-byzantinische, in jedem Fall eine von christlichen Kirchen abweichende Fassaden- und Baugestaltung, eine eigene Handschrift, an diesem Sakralbau realisieren. Details der Baukonzeption des Jahres 1904: Das Fenster mit Sandsteingewände der 1838er Synagoge, dies zur Belichtung der Frauenempore, über der längsseitigen Hoftür wird zugemauert.

Diese einflügelige, dunkelbraun gefirniste, ca. 100 cm breite und 230 cm hohen Holztür war der Haupteingang der Synagoge des Jahres 1838. 1904 wird dieser zur Hofzugangstür herabgestuft. Ein attraktives, zweiflügeliges hölzernes, dunkelbraun gefirnistes kassettiertes Eingangsportal, integriert in die Jugendstilfassade, direkt an der Oggersheimer Straße gelegen, wird kreiert.

Dieses Hauptportal hatte ein im Abstand von ca. 20 cm zur Straßenseite hin angeordnetes zweiflügeliges Schutzgitter-Tor aus Eisenstäben. Im dahinter liegenden kleinen Foyer gab es linker Hand einen Treppenverschlag, mit Zugangstür zur Empore, einen rechter Hand liegenden Vorbereitungs- und Aufbewahrungsraum sowie geradeaus den zweiflügeligen Türzugang zum Synagogenhauptraum. Die neue, über zwei Fensterachsen gehende Empore und der verglaste Licht spendende Dachreiter auf dem Ziegeldachfirst waren eine der Hauptveränderungen im Inneren der Synagoge von 1904. Über die Einweihungsfeierlichkeiten nach den Baumaßnahmen von 1904 gibt oben stehender Bericht, abgedruckt in der "Speierer Zeitung", Auskunft.

2. Innengestaltung der Synagoge

Aus der Werner Dellheim´schen Innendekorationsbeschreibung von 2003 ist ersichtlich, dass die Ausmalung der Synagoge von 1871 auch bezüglich Farbe und Ornamentik verändert wurde. Vor allem hatte man neue bemalte Synagogenfensterscheiben installiert, eine neue Bestuhlung eingebracht und mit Hilfe einer, das Gesamtbauwerk umfassenden malermäßigen Innen- und Außenneugestaltung eine optische Totalveränderung der Synagoge vorgenommen. Die Innenperspektivzeichnung gibt weitere Auskunft.

3. Gottesdienstordnung und Ritualeinrichtungen: gedacht für die aktive Beteiligung der Gläubigen

Bereits in Zusammenhang mit der Synagogeneinweihung von 1838 beschloss die Israelitische Kultusgemeinde sich eine "Synagogenordnung", angelehnt an die Speyerer Version, zu geben. Diese wurde 1857 pfalzweit neu gefasst. Dem generellen Wunsch Pfälzer israelitischer Landgemeinden "Reformsynagogen" zu betreiben, wurde die Polizeiordnung gerecht: Die Synagogenordnung, bezogen auf den Gottesdienst -nicht die Glaubensliturgie- war nahezu identisch mit derjenigen in protestantischen Kirchen.

Bauliche Harmonie mit funktionalen Grundrisslösungen, vor allem die richtige Anordnung der Ritualeinrichtungsgegenstände und die Einhaltung der liturgischen Tradition unterstützen den Zusammenhalt einer Minderheit, wie sie die Juden darstellen. Dazu seien die wichtigsten Einrichtungen, auch in der Mutterstadter Synagoge, genannt: zum einen der auf einem Podest platzierte, von einem Geländer mit Ablagebank für Thorabinden umgebene hölzerne ALMENOR und ein Pult, die BIMA, auf dem die THORAROLLEN zwecks Lesung gelegt werden. Dies einschließlich der dazugehörenden Beleuchtung mit Hilfe eines Kronleuchters und das EWIGE LICHT.

Dieses beschriebene "Gesamtensemble" sollte die Aufmerksamkeit der Gottesdienstbesucher auf den Vorsteher und -das ist das Wichtigste- auf die THORAROLLEN lenken. Räumliche Platzierung und die Gestaltung der Kulteinrichtungen machen je nach Region die Verschiedenheit der jüdischen Glaubensströmungen sowie das Aussehen der Synagogen, auch im Innern unterscheidbar.

Die Thorarollen enthalten die fünf Bücher Moses, den Pentateuch. Die mit Stoffstreifen zusammengebundenen, immer in einem wunderschönen bestickten Thoramantel gehüllten, mit Holzgriffen und einem metallenem Thoraschmuckschild versehenen Thorarollen sind die wichtigsten Ritualgegenstände einer Synagoge. Sie sind geborgen in einer tragbaren Lade oder einem Schrank oder, wie in Mutterstadt, in einer mit einem Vorhang verschlossenen Mauernische, dem Aron-Hakodesch platziert. In der Nische, auf Tischhöhe, mit einem Holzbord versehen, waren die Thorarollen, laut Werner Dellheim, aufgestellt und gegen die Wand gelehnt.

4. Lebensumstände im 20. Jahrhundert bis zur Deportation nach Gurs 1940

Die Emanzipation, die im 18. Jahrhundert auch "Veredelung des jüdischen Bevölkerungsteils" genannt wurde, war spätestens anfangs des 20. Jahrhundert erfolgreich umgesetzt. Die Assimilation, also die Angleichung aller Lebensumstände der Mutterstadter Juden und Nichtjuden mit Ausnahme der jeweiligen Religionsauffassung war perfekt gelungen. Den immer schon latent vorhandenen Bodensatz des Antijudaismus und des Antisemitismus, vergleichbar mit demjenigen unserer Tage, kann man außer Acht lassen.

Sichtbarer Ausdruck der Integration der Israelitischen Kultusgemeinde lassen sich an vier öffentlichen Einrichtungen festmachen: das Friedhofs-Kriegerdenkmal im Zusammenhang mit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, auf den sechs jüdische Kriegsteilnehmer namentlich genannt sind, eine jüdische Schule in der heutigen Seniorentagesstätte in der Jahnstraße, einen eigenen jüdischen Friedhof und als letztes seit 1904 eine attraktive, das Selbstbewusstsein der Israelitischen Kultusgemeinde ausdrückende Synagoge mit einer neuen attraktiven Fassade. Die "Arme-Leute-Synagoge" von 1838 war verschwunden.

Jüdische und nichtjüdische Freundschaften waren an der Tagesordnung, es gab jüdische Gemeinderäte genauso, wie es jüdische Vereinsgründer und Vereinsvorstände in nichtjüdischen Vereinen gab. Als jüdische Familie bei entsprechenden Anlässen eine Spende für die katholischen oder protestantischen Gemeinden zu geben, war selbstverständlich. Eine 1897 geschlossene Mischehe, auch die Begeisterung für eine Weltkriegsteilnahme 1914 – 1918, einige Eiserne Kreuze an kriegsteilnehmende Juden als Tapferkeitsauszeichnungen, auch jüdische Kriegsopfer, dies alles verwob in positiver Hinsicht u.a. auf lokaler Ebene die Schicksale jüdischer und nichtjüdischer Menschen miteinander.

Die im Regelfall auch in den Nachkriegsjahren ab 1918 relativ erfolgreichen, da Handelsaktivitäten ausübenden jüdischen Familien waren generell ihren bäuerlichen oder abhängig beschäftigten Kunden gegenüber faire Kreditgeber, wenn diese in Not geraten waren. Man "schrieb an", das heißt man kreditierte.

Die ab den 1920er Jahren bezüglich Weltkriegsniederlage 1914/18 in die Sündenbockrolle gedrängte, ab 1933 wirtschaftlich boykottierte und ab 1935 ihrer Rechte und Existenz per Verwaltungsakte beraubte sowie ab 1938 von den Nationalsozialisten zu Tode gehetzte Minderheit, u.a. die Mutterstadter Juden, hatte Folgen. Man zog in die Anonymität der Großstädte, wanderte aus oder erduldete, wenn man älter war, krank oder auch mittellos, diese Ungerechtigkeiten bis zu dem Deportationstag in das südwestfranzösische Pyrenäendorf Gurs am 22.10.1940.

In Mutterstadt traf dies 52 Bürger. Jahrtausendelanger, durch christliche Kirchen geprägter Antijudaismus, jahrzehntelanger, schon im willhelminischen Kaiserreich vorhandener Antisemitismus wird ab 1922, u.a. durch die Nationalsozialistische Partei unter Hitler propagandistisch indoktrinierend und verhetzend geschürt. Diese Politik fand leider zu wenige nicht jüdische Gegner in Oppositionsparteien, Organisationen oder auch auf Nachbarschaftsebene. Die ab 1933, dem Jahr der "Machtergreifung" Hitlers, mehrheitsfähige nationalsozialistische Partei wies wissenschaftliche, wirtschaftliche und sportliche Erfolge vor und konnte die Arbeitslosigkeit beseitigen, da Kriegsrüstung betrieben wurde. Die Politik der Partei lehnte auch die alleinige Weltkriegsschuld der Deutschen als falsch ab. Dies alles brachte diesen eine überwältigende Mehrheit u.a. der Mutterstadter Wahlbürger ein: 91,1% (1936). Das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit in der Hitlerdiktatur, das Denken in Kategorien der Ungerechtigkeit in Bezug auf die jüdische Minderheit gingen in der damals herrschenden kollektiven nationalsozialistischen Erfolgseuphorie unter.

Diese für Juden trostlosen Lebensumstände, beispielsweise nach der Synagogenverbrennung 1938 einschließlich der sich anschließenden Verhaftungen, schildert Ernest Loeb, Ende 1938 Häftling im Konzentrationslager in Dachau, bei seiner Verhaftung am 10.11.1938 in einer Briefpassage vom 29.10.1988: " … dann ging ich hoch erhobenen Hauptes und stolz durch Mutterstadt. Die Leute, die Schuld waren an meiner Verhaftung und mir auf dem Weg begegneten, sollten sich schämen, dachte ich …"

Es erfolgte ein Zusammenschmelzen der Mutterstadter jüdischen Gemeinde von 91 Personen (1933) auf 52 Bürger (1940). Einher ging die allgemeine Entrechtung der Juden, auch als Folge der staatlich organisierten Synagogenbrandstiftung 1938 sowie die Aufhebung ihrer Bürgerrechte bis 1940. Diese -das Menschenvertrauen beseitigende- Lebensumstände auch der Mutterstadter Juden verrät eine weitere Briefpassage der deportierten und 1941 von Gurs aus nach New York entkommenen Ida Loeb vom 13.10.1941, die eine Frage an den sie abholenden Polizisten beinhaltet: " … warum schießt ihr uns nicht gleich Tot? Das wäre mir lieber! …" und "… niemand (der Deportationsopfer Red.), weinte…" und "… die Strassen standen voller Gaffer, aber ruhig …" (Zitat Ende)

Aus Sicht des Jahres 2005 stehen den, durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft 57 zu Tode gekommenen Mutterstadtern, in dieser Zeit zwei Ereignisse gegenüber. Es sind dies die Widerstandshandlungen zweier Mutterstadter Helden. Ihr Verhalten 1945 war mit der sofortigen Exekution bedroht. Johannes Unold, ein Kommunist, versteckte zwei Juden in seinem Haus, Wilhelm Binder, der Dorfpolizist, warnte im März 1945 rechtzeitig zwei jüdische Familien vor der durch ihn selbst vorzunehmenden Verhaftung zwecks Abtransport in das in der Nähe von Prag gelegene Konzentrationslager Theresienstadt.

Autor: Herbert H.W. Metzger, Jahrgang 1940, unternehmerisch tätig, amtierte von 1980-1990 als Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt. Im Rahmen von zwei Bürgeraktionen und dieser Publikation "Die ehemalige jüdische Gemeinde und ihre Nachkommen" engagiert er sich, das Unrecht, begangen an der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Mutterstadt und der Pfalz, aufzuarbeiten und vor allem die Jugend über das Schicksal des Pfälzer und Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteils zu informieren.