3.2.1 Dorfpolizist Binder und der KZ-Transport nach Theresienstadt
- Lebensrettung der Rockstrohs, Gemars sowie von Fritz, Ruth, Harry und Isolde Dellheim -

Die Gartenstraßen in Mutterstadt, 1945. Millionen Flüchtlinge in den deutschen Ostgebieten sterben, weil Transportraum fehlte, um diese nach Westdeutschland zu bringen. Die amerikanische Armee stand schon in der Westpfalz. Defätisten wurden ohne Gerichtsverfahren zur Abschreckung an die Bäume gehängt. Trotzdem wurden Züge bereitgestellt, um die letzten noch lebenden Juden u.a. in das KZ Theresienstadt zu bringen. [000]

Wilhelm Binder, mit den lokalen Familien aber auch politischen Machtströmungen im Ort vertraut, sollte die letzten hier lebenden Mutterstadter jüdischer Herkunft festnehmen und zu einem Transportzug in das KZ Theresienstadt bei Prag bringen. Sich einer möglichen Todesstrafe aussetzend, warnte er Frau Rockstroh und Frau Gemar, ihre Schwester. Beide überlebten im Kloster Oggersheim, wo sie sich verstecken konnten. [000]

Man muss sich die Szenerie vorstellen. Im ausgehenden Winter 1944/45 zeichnete sich das Ende des 2.

Weltkriegs ab. Die deutschen Städte, oftmals total zerstört, Mutterstadt ebenfalls durch Ruinen gekennzeichnet, gaben die Kulisse zum Schlussakt des nationalsozialistischen Dramas ab:

Alleine im Massot´schen/Ipson´sche Haus in der Friedensstraße, schräg gegenüber dem Anwesen der jüdischen Familie Fritz Dellheim, kamen am 1. Februar 1945 durch Bomben 33 Personen zu Tode. Im Mutterstadter Rathaus wurde durch nach wie vor überzeugte Nationalsozialisten die Vorbereitung koordiniert, Mutterstadt gegen die immer näherrückende, vom Haardt-Gebirge kommende, amerikanische 3. Armee unter General Patton zu verteidigen.

Die Führung in Berlin und regionale Parteigrößen hatten trotzdem außerordentlich viel Zeit darüber nachzudenken, wie sie Regimefeinde und "Andersrassige" in den bevorstehenden Untergang des 3. Reiches mit hineinziehen konnten.

Vor allem die Juden aus christlich/jüdischen Mischehen und so genannte Mischlinge 1. Grades, also Kinder jüdischer/nichtjüdischer Eltern sollten in einem letzten Auskämmen aus dem "deutschen Volkskörper" entfernt werden. Der nationalsozialistischen Gesetzeslage nach sollten diese in das Konzentrationslager Theresienstadt bei Prag verbracht werden.

Während in den deutschen Gebieten jenseits der Oder Millionen Deutsche auf der Flucht waren, Deutsche in rücksichtslosester Weise durch die Rote Armee zu Tode gebracht wurden, stellte man im Westen, zum gleichen Zeitpunkt, "Theresienstadt-KZ-Züge" zusammen, mit Transportraum der im Osten fehlte.

Soldaten und Bürger, die die Sinnlosigkeit eines Widerstandes gegen einen überlegenen Gegner eingesehen hatten, einen Gegner, der übrigens bei vielen Mutterstadtern im Regelfall nicht als Befreier betrachtet wurde, wurden kurzerhand erschossen oder zur Abschreckung aufgehängt und wochenlang vor Ort belassen.

In diesem Szenario der Untergangswilligen, die mit dem Slogan im Mund lebten "jetzt erst recht" und "die Juden nehmen wir mit" war es der Wunsch ihrer Begierde, Menschen wie die Rockstrohs und Gemars als Rassenfeinde zu beseitigen.

Die nationalsozialistischen Verantwortlichen der KZ-Transporte beauftragten die örtliche Polizei in Mutterstadt, die Betroffenen festzunehmen und zum Transportzug zu bringen.

Wilhelm Binder, Dorfpolizist, hatte sich all die Jahre seit 1933, dem Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten, seine Gedanken gemacht. Und ganz offensichtlich: Am 09.03.1945 war er nicht mehr bereit, Befehle und Anweisungen zu befolgen, die sich, gestützt auf die Rassengesetzgebung der Nationalsozialisten aus dem Jahr 1935, gegen die Opfer richteten.

Wilhelm handelte geschickt: Er "verständigte" die Rockstrohs und Gemars vor der eigentlichen Festnahme zwecks Überstellung an den Zugtransport in einem zeitlichen Abstand, dass es diesen möglich war, ein paar Habseligkeiten zusammenzuraffen und unterzutauchen. Wilhelm hat sie "verständigt", genauer gesagt: Er hat vier Menschen das Leben gerettet.

Ida und ihr Sohn Karl Rockstroh, sowie ihre Schwester Frau Gemar mit ihrem Sohn Egon wurden von den Nonnen in der Oggersheimer Klosterkirche, seit der Kurpfalzzeit ein regionaler Wallfahrtsort, versteckt.

Aber möglicherweise verdanken noch vier weitere Personen Wilhelm Binder das Leben, die wiederum durch die Rockstrohs gewarnt wurden: Vater Fritz Dellheim, "Volljude" verließ sein Mutterstadter Versteck bei der Familie Unold. Mit seiner nichtjüdischen Frau und seiner Tochter Ruth, verheiratete Külbs, ihr neun Jahre jüngerer Bruder Harry und ihre 18 Jahre jüngere Schwester Isolde, verheiratete Frühling, alle "Mischlinge 1. Grades", gingen alle bei Nacht und Nebel aus Mutterstadt fort nach Edenkoben. Sie gingen der amerikanischen Armee entgegen, konnten sich bei Freunden bis zur Ankunft der Amerikaner um den 20. März 1945 verstecken.

Fritz Dellheim, "Volljude", hatte sich monatelang bei Johannes Unold, Im Brunnensee, Mutterstadt, Anhänger der verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), verstecken können.

Wilhelm Binder wusste genau, dass er mit seinem Leben spielte, hätte man seitens der Machthaber die Umstände des Untertauchens der auserkorenen Opfer erfahren.

Wilhelm Binder war ein mutiger, gerecht denkender Mensch.

Autor: Herbert H.W. Metzger, Jahrgang 1940, unternehmerisch tätig, amtierte v. 1980-1990 als Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt. Im Rahmen von 2 Bürgeraktionen und Herausgeber dieser Publikation engagiert er sich, das Unrecht, begangen an der ehemaligen jüdischen Gemeinden in Mutterstadt und der Pfalz, aufzuarbeiten und vor allem die Jugend über das Schicksal des Pfälzer und Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteil zu informieren.

Fotos und Sonstiges, sowie die dazugehörenden Texte, die Autoren-Kurzbiographie, sowie die Multiple-Choice-Fragen wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.
Quelle: Siehe Quellennachweis Titel 9 (Nr. 000)

Für Schulen: Multiple-Choice-Fragen zu dem oben stehenden Artikel

- Mehrere Antworten können richtig sein -

War das Sympathisieren oder gar Helfen von Juden unter Strafe gestellt?

 
mit der Todesstrafe bedroht
 
mit der Einlieferung in ein KZ bedroht
 
eine Ordnungswidrigkeit

 

Wer versteckte die Frauen Rockstroh und Gemar?

 
Johannes Unold
 
das katholische Kloster in Oggersheim
 
die protestantische Kirchengemeinde in Mutterstadt

 

Was geschah mit Menschen deutschlandweit, die am Endsieg am Ende des Krieges zweifelten und dies aussprachen?

 
sie wurden in einem Gerichtsverfahren abgeurteilt
 
sie wurden ohne Gerichtsverfahren erschossen
 
sie wurden ohne Gerichtsverfahren aufgehängt