5.1.2 Pogromstimmung am 22. und 23.10.1938 in der so genannten Reichskristallnacht
- Synagogenbrand und Drangsalierung der jüdischen Bevölkerungsteile -

Rauchschwaden über der Mutterstadter Synagoge, "Reichskristallnacht", 1938. [000]

Basierend auf nebenstehenden Anweisungen wurde mit Hilfe von 100 Ltr. ausgeschüttetem Benzin frühmorgensam 10.11.1938, die Synagoge eingeäschert, die jüdischen Wohnungen und Geschäfte größtenteils ausgeraubt, Männer ins Gefängnis geworfen und Kinder und Frauen schikaniert. Der Mutige des Tages war der prot. Pfarrer Bähr, der protestierte und dafür ins Gefängnis kam.

Über die Gefängnisse Ludwigshafen und Frankenthal kamen jüdische Männer ins KZ Dachau bei München. Leicht kam man von dort frei, wenn man sich verpflichtete, auszuwandern. Eine Verhöhnung der Opfer 1938: Die Brandbeseitigungskosten wurden vom Gemeinderat höher festgelegt als der Wert der Synagoge. Nach dem Krieg, 1946, wurde den Synagogenbrandstiftern der Prozeß gemacht, die Täter verurteilt bzw. freigesprochen

Die Pogromnacht in Mutterstadt spielte sich foldendermaßen ab: Der SA-Standartenführer L. K., der im Auftrag seines SA-Brigadeführers D., dem ehemaligen Kommandanten des KZ Neustadt, die Einäscherung mehrerer Synagogen in der Vorderpfalz leitete, suchte in der Nacht vom 9./10.11.1938 gegen 2 Uhr den SA-Sturmführer O. W. in Mutterstadt auf und übermittelte diesem den Befehl, bis zum Morgengrauen die örtliche Synagoge niederzubrennen.

Während sich K. an seinem Wohnort Mußbach zurückbegab, weckte W. zunächst den Kommandanten der Mutterstadter Feuerwehr, teilte ihm mit, um 3 Uhr werde die Synagoge brennen und untersagte ihm jegliche Löscharbeiten an dem Gotteshaus. Danach verständigte W. mehrere örtliche Aktivisten von NSDAP und SA von der geplanten Aktion. W., die beiden E., alles Mutterstadter NS-Aktivisten und der Schwiegersohn des Tankstellenbesitzers P. M. holten 100 Liter Benzin an der Tankstelle. Auf einem Handwagen brachte man das Benzin zur Synagoge. Dort verschaffte man sich gewaltsam Zutritt durch eine Seitentür, schüttete das gesamte Benzin ins Innere der Kultstätte und setzte diese damit gegen 5 Uhr morgens in Brand.

Eine gewaltige Explosion riss die Bevölkerung aus dem Schlaf und lockte zahlreiche Schaulustige an, darunter auch viele Schulkinder, die auch nach Unterrichtsbeginn am Brandort bleiben und sich ergötzen durften. Die Feuerwehr stand tatenlos herum.

Einige Juden die das Feuer zunächst für die Folge eines Unfalls hielten, erschienen an der Synagoge und mussten dort Spott und Misshandlungen über sich ergehen lassen. So wurde der Kaufmann T. M. von einem SA-Mann angeherrscht, er habe hier nichts zu suchen, und gleichzeitig mehrmals heftig ins Gesicht geschlagen, so dass ihm Brille und Mütze zu Boden fielen.

Eine Tagelöhnerin aus Mutterstadt, die dem Angegriffenen die Mütze aufhob und zurückgab, erhielt von einem SA-Mann wegen Hilfeleistung einen Tritt.

Der Kaufmann Leo Sundelowitz, der sich in seiner Eigenschaft als Betreuer der Synagoge am Brandort einfand, wurde von einem etwa fünfköpfigen Trupp attackiert und zusammengeschlagen, bis er regungslos am Boden liegen blieb. Dabei ertönten Schmährufe wie "Schaffe dich weg, stinkiger Jude!" und "Schmeisst den Juden ins Feuer!" Ein SA-Mann führte Sundelowitz schließlich in eine Seitengasse, von der Sundelowitz unbehelligt nach Hause gehen konnte.

Pfarrer Johannes Bähr sagte am Morgen des 10. November vor seiner Schulklasse: "Was hier gemacht wird, ist nicht recht – Juden sind auch Menschen und mit Menschen muss man menschlich umgehen".

Ein Teil der Brandstifter zog danach unter Führung W. nach Schifferstadt, um die dortige Synagoge einzuäschern.

Anmerkung: Im Prozess gegen die Mutterstadter Brandstifter verweigerte Leo Sundelowitz in einem Brief an die Staatsanwaltschaft Frankenthal weitere Aussagen, da er sich von Mutterstadter Altnazis bedroht fühlte. Ebenso wie der Mutterstadter Prozess endete auch der Schifferstadter Prozess wie das berühmte "Hornberger Schießen". Einer der freigesprochenen Brandstifter wurde sogar wieder als verbeamteter Lehrer eingesetzt.

Die Polizei brachte die jüdischen Männer in Mutterstadt, die zwischen 16 und 60 Jahre alt waren, in die Gefängnisse nach Ludwigshafen und Frankenthal. Am Nachmittag des 10.11.1938 holten Polizeibeamte auch die über 60- jährigen Männer, Frauen und die Kinder aus ihren Wohnungen und brachten sie aufs Rathaus, wo sie für 2-3 Stunden festgehalten wurden.

Unterdessen plünderten und demolierten einheimische und auswärtige Nationalsozialisten die Wohn- und Geschäftsräume der Mutterstadter Juden. Lediglich 9.926,90 RM sowie Wertpapiere im Wert von 7.720 RM lieferten die Teilnehmer des Raubzuges auf dem Mutterstadter Bürgermeisteramt ab. Den größeren Teil der Beute steckten die Täter in die eigenen Taschen.

Autor: Hermann Morweiser, Jahrgang 1932, wohnt in Ludwigshafen/Rhein. Engagiert inantifaschistischen Aktivitäten nach dem 2. Weltkrieg hat er das "Antifa-Archiv" aufgebaut u.a. mit dessen Hilfe zahlreiche Publikationen erschienen und geschichtsbezogene Dissertationen erarbeitet wurden. Morweiser veröffentlicht auch eigene Beiträge zur NS-Vergangenheit u.a. "Pfälzer Juden und IG-Farben" 1988.

Fotos und Sonstiges, sowie die dazugehörenden Texte, die Autoren-Kurzbiographie, sowie die Multiple-Choice-Fragen wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.
Quelle: Siehe Quellennachweis Titel 9 (Nr. 000)

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- Mehrere Antworten können richtig sein -

Von wem waren die deutschlandweiten Synagogenniederbrennungen, auch diejenige der Mutterstadter Synagoge, angeordnet?

 
vom Mutterstadter Bürgermeister
 
vom SS-Gruppenführer
 
von Hitler und Görnig Heydrich

 

Wer protestierte gegen die Synagogenniederbrennung öffentlich?

 
der prot. Pfarrer Johannes Bähr
 
Bürgermeister und Gemeinderat
 
die Bevölkerung

 

Die jüdischen Männer kamen u.a. in das Konzentrationslager Dachau. Wie kam man von dort wieder heraus?

 
durch die Verpflichtung Auszuwandern
 
automatisch nach einiger Zeit
 
kam nie mehr heraus