5.2.2 Kindheit, Schul- und Jugendzeit münden in den Kindertransport am 5. Januar 1939 nach England: Der Mutterstadter Alfred Dellheim erzählt seine Geschichte und die seiner Familie. Ein Rückblick, 2002.

Das Foto zeigt die Speyerer Straße zum Zeitpunkt eines Unwetters in den 1960er Jahren. In dieser Straße und dem Schulgässel zur Johannes Hofmann-Schule hin, dem heutigen Haus der Vereine, spielten sich die ersten Lebensjahre des Fred Dellheim ab. Jüdische Schulkinder besuchten seit der Schließung der jüdischen Schule im Jahr 1916 zusammen mit nichtjüdischen Kindern die Mutterstadter Schulen. Fred musste alle 14 Tage für eine Stunde in die Pestalozzi-Schule umsiedeln, um an dem zentralen jüdischen Religionsunterricht teilzunehmen. [000]

Das Dellheim´sche Kartenspiel: eine typische Freundes- und Familienszene in den 1920er Jahren in Mutterstadt in der Speyerer Str. 62. 1931 zieht der damals 7-jährige Alfred zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester Tilli in die Friedensstraße 8 um. Dort erlebt er auch 1931/32 die ersten oft handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Hitleranhängern und deren Gegner, meist Kommunisten und Sozialdemokraten. Das Foto zeigt von links nach rechts Julius Dellheim, Freds Vater, Hermann Loeb, Ehefrau Marlie Dellheim und den Eisenwarenhändler A. Loeb. [000]

Das Foto zeigt Alfred, neun Jahre und Tilli, zwölf Jahre alt als zwei unkomplizierte, wohlbehütete Kinder in einer fleißigen doch armen Familie. Judenbeleidigende Lieder der Hitler-SA vor seinem Elternhaus in der Friedensstraße 8, durch seinen Biologielehrer vorgenommene Schädelvermessung als angebliches minderwertiges Rassenmerkmal klassifiziert, dies bei einem 10-jährigen Realschüler, prägten Alfred lebenslang, auch dahingehend um gegen Diskriminierung u.a. von Minderheiten vorzugehen. 1938 wird er aufgrund eines Reichsgesetzes vom Schulbesuch ausgeschlossen. Er lernt Schriftsetzer in Ludwigshafen. [000]

Der 1. Schultag von Alfred in der Johannes Hofmann-Schule 1930. Acht Jahre später wird man seinen Vater im Anschluss an die Synagogenniederbrennung 1938 in das Konzentrationslager Dachau bringen, nachdem man die elterliche Wohnung verwüstet hatte. Folge der deutschlandweiten Ausschreitungen gegen den jüdischen Bevölkerungsteil: Die englische Regierung nimmt 10 000 jüdische, deutsche Kinder als Emigranten auf, darunter Alfred Dellheim, 1939. [000]

Die obige Karte zeigt die Emigrationsroute des Fred Dellheim. Am 05.01.1939 bringt der Zug den 14-Jährigen über Ludwigshafen, Köln, Zevenar (NL), dem Seefähren-Hafen Hoek van Holland (NL) über Harwich (GB) nach London (GB). Jüdische Hilfsorganisationen haben u.a. dort ein Anwesen, ein Hostel, für ca. 30 Kinder gemietet. Fred geht zur Schule und lernt u.a. Englisch. Bei Kriegsausbruch 1940 wird er als jüdischer Deutscher von den Engländern interniert und nach Kanada gebracht. 1943 gelingt es ihm englischer Soldat zu werden, er kommt mit der Kampftruppe über die Normandie, Belgien bis nach Bremen, wird nach Kriegsende 1945 u.a. Dolmetscher in diversen Kriegsgefangenenlagern. 1947, zurück im Zivilleben, wohnt er im Ruhrgebiet, siedelt 1951 in die damalige DDR um, arbeitet anschließend zwölf Jahre in Chemnitz und ab 1963-1990 in Berlin, wo er 2002 noch lebt. [000]

Das Foto zeigt Fred Dellheim 1940 in London. Nach dem Kriege 1945 wird er erfahren, dass seine Eltern und seine Schwester über Gurs/Rivesaltes nach Auschwitz kamen und zu Tode gebracht wurden. [000]

Viel lieber als die Tasten meines Computers zu betätigen, würde ich erzählen und dabei – vor allem jungen Leuten– in die Augen schauen. Da spürt man, ob man verstanden wird, oder ob da
Fragen offen sind.

Aber ich habe es Herbert Metzger, dem engagierten Mutterstädter, versprochen, über einiges aus meiner Kindheit oder Jugend dort aufzuschreiben, und wer es fertig bringt, in Berlin ein angesehenes "pfälzisches" Hotel – mit einer jetzt schon bekannten Galerie – aufzubauen, der könnte irgendwann mal auch ein solches Gespräch ermöglichen. Bis dahin also im Internet.

Nun einiges zu mir. Ich wurde 1924 geboren und verbrachte meine ersten sieben oder acht Jahre in der Speyerer Straße 62. Von dort aus ging ich auch zur Schule in der Schulstraße – eine ganz schmale Gasse von der einen zur anderen Straße ist mir in Erinnerung geblieben. Das gilt auch für meine Lehrer dort, Mast und Eyselein. Dann zogen meine Eltern in die Friedensstraße 8, dort wo heute die "Pension Ruth" ist. Das kleine alte Haus und die Scheune gibt es nicht mehr.

Die Jahre dort – von 1931 oder 32 bis zum Januar 39 – sind mir sehr gut in Erinnerung und das aus vielen Gründen. Dort erlebte ich schon als Kind die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern Hitlers – beide gab es in unmittelbarer Nachbarschaft – einige Namen sind mir auch in Erinnerung. Ich verfolgte diese Vorgänge deshalb so interessiert, weil meine Eltern jüdisch waren und deshalb auch meine Sympathie natürlich den Hitlergegnern gehörte.

Ich erinnere mich an Märsche der SA, Hitlers "Sturmabteilungen". Meist bogen sie von der Oggersheimer Straße in die Friedensstraße ein – und kurz vor unserem Haus begannen sie ein Lied zu singen, das so begann: "Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut." Damals ahnte ich nicht, wie bitter ernst das sein sollte.

Ab Ostern 1934 nach der vierten Klasse kam ich zur Oberrealschule nach Ludwigshafen. Da bei uns zu Hause mit jedem Pfennig gespart werden musste, waren meine Eltern froh, dass sie nur 12 Mark Schulgeld für mich zahlen mussten statt der üblichen 20 – weil mein Vater im Ersten Weltkrieg an vorderster Front kämpfte und verwundet wurde. Dort erlebte ich im Biologieunterricht, dass anhand meiner Schädelform – vor der ganzen Klasse – meine "Andersartigkeit und Minderwertigkeit" durch den Professor "nachgewiesen" wurde. Solch ein Erlebnis prägt sich ein.

Ostern 1938 musste ich die Schule verlassen. Um mir das zu sagen, bestellte mich der Rektor in sein Büro. Ich hatte Glück. In einer Druckerei, die einem jüdischen tschechoslowakischen Unternehmer gehörte, fand ich eine Lehrstelle als Schriftsetzer.

Als ich am 10. November 38 mit der damaligen Kleinbahn von meiner Arbeitsstelle in Mutterstadt ankam, empfingen mich meine Mutter und meine Schwester Tilli, beide kreidebleich und verweint. Sie sagten mir, dass unsere Wohnung von einem SA-Trupp völlig zerstört, schlimmer noch, dass mein Vater verhaftet und weggebracht wurde.

In den folgenden Wochen wohnten wir bei meiner Großmutter in der Dannstadter Straße und warteten auf ein Lebenszeichen meines Vaters. Meine Mutter befürchtete, dass er nicht mehr lebte. Nach etwa drei Wochen kam eine von ihm geschriebene Postkarte aus dem KZ Dachau. Obwohl wir wussten, was Dachau bedeutet, diese Nachricht machte uns froh – wir wussten: Er lebt.

So wie uns erging es damals vielen tausend jüdischen Familien in Deutschland, so wie in Mutterstadt wurden hunderte Synagogen niedergebrannt und zerstört. Das löste weltweit Empörung aus. In England beschloss die Regierung, 10 000 jüdische Kinder aus Deutschland aufzunehmen, die Kosten dafür übernahmen nicht nur jüdische, sondern auch christliche und andere humanitäre Organisationen und Persönlichkeiten. Sie organisierten die so genannten "Kindertransporte".

In diesen schrecklichen Wochen meldete mich meine Mutter für einen solchen Transport – und rettete mir damit das Leben. Ende Dezember kam mein Vater mit mehreren eingeschlagenen Rippen aus Dachau zurück und wenige Tage danach – am 5. Januar 39 – brachten mich meine Eltern und Schwester nach Ludwigshafen zum Zug, der mich nach Holland brachte, um dann per Fähre nach England zu gelangen.

Den Abschied auf dem Bahnhof werde ich bis zu meinem Lebensende vor mir sehen, erwies er sich doch als endgültig. Ob mein Vater das ahnte? Zum ersten Mal sah ich Tränen in seinen Augen.

Für mich folgten sehr unterschiedliche Jahre. Ich ging zur Schule, um innerhalb weniger Monate die fremde Sprache gut zu erlernen, wurde dann – als ich 16 wurde – als "feindlicher Ausländer" interniert, die meiste Zeit in Kanada. Nach meiner Freilassung arbeitete ich in London, engagierte mich in der dortigen "Freien Deutschen Jugend".

Ende 1942 erhielt ich über das Rote Kreuz in der Schweiz eine Postkarte meiner Eltern und Schwester aus dem Internierungslager Rivesaltes, wohin sie über Gurs im Oktober 1940 von Mutterstadt deportiert wurden. Meine Mutter schrieb, dass sie auf "Transport gingen" und hoffnungsvoll wären. Aber meine Vermutungen bestätigten sich: Es war das letzte Lebenszeichen, sie kamen nach Auschwitz.

Ende 1943 wurde ich Freiwilliger Soldat der britischen Armee. Von Juni 44 bis zum Ende des Krieges war ich an der Front von der Normandie bis nach Bremen. In britischer Uniform war ich dann auch zum ersten Mal wieder in Mutterstadt – Es müsste wohl 1946 gewesen sein. Nach meiner Entlassung aus der Armee 1947 lebte ich zuerst in Düsseldorf und Essen, zog dann in die DDR, wo ich in der Wirtschaft tätig war.

Irgendwie bleibt man mit dem Ort seiner Kindheit verbunden. Deshalb war ich auch des Öfteren wieder in Mutterstadt. Ich hatte angenehme Begegnungen mit mir bekannten, aber auch mit mir vorher nicht bekannten Menschen und zwei Dinge, die mir missfallen: Schon in den 60er oder 70er Jahren bekam ich das Buch über Mutterstadt, verfasst von meinem ehemaligen Lehrer Eyselein. Kein Wort von Auschwitz, kein Wort des Gedenkens derer, deren Familien Jahrhunderte lang in Mutterstadt lebten und Opfer der Nazibarbarei wurden. Im Gegenteil: nur der Hinweis, dass einige (?) dorthin zurückkehrten.

Andererseits finde ich es gut, dass der jüdische Friedhof gut erhalten, dass eine Gedenktafel für die jüdischen Opfer der Nazizeit im Ehrenhof des Mutterstadter Friedhofs angebracht wurde und dass sich engagierte Bürger für weitere Maßnahmen zur Bewahrung ihres Andenkens mühen. Sie tragen damit zum Verständnis bei, dass sie Gleiche unter Gleichen sein wollten – auch im Meinungsstreit – dass sie nicht privilegiert, aber auch nicht diskriminiert sein wollten.

Ich hoffe, dass heutige und zukünftige Generationen dafür sorgen, dass sich eine solche Zeit nie wiederholen kann. Deshalb schrieb ich auch diese Zeilen und auf eine eventuelle Begegnung mit daran interessierten Leuten freue ich mich.

Autor: Alfred (Fred) Dellheim, Jahrgang 1924, Mutterstadter jüdischer Herkunft stammt aus einer angesehenen Pferdehändlerfamilie. Er entkam per "Kindertransport", 1939, dem NS-Regime und kehrte 1945 mit der englischen Armee nach Deutschland zurück. Übersiedelt in die DDR brachte er es dort zum Leiter eines Maschinenbaukonzerns. A. Dellheim ist darüber hinaus tätig als Publizist in sozialer und antifaschistischer Thematik.

Fotos und Sonstiges, sowie die dazugehörenden Texte, die Autoren-Kurzbiographie, sowie die Multiple-Choice-Fragen wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.
Quelle: Siehe Quellennachweis Titel 9 (Nr. 000)

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- Mehrere Antworten können richtig sein -

Wie wurden beispielsweise jüdische Schüler in ihren Schulen durch ihre Lehrer diskriminiert?

 
indem man Kopfformen als rassisch, jüdisch minderwertig bezeichnete
 
indem man jüdische Schüler ab 1938 Schulverbot erteilte
 
sie wurden nicht diskriminiert, konnten das Gleiche lernen wie nichtjüdische Schüler

 

Per "Kindertransport" 1939 ausgewandert, dann als Deutscher in Kanada interniert kam Fred 1944 als Soldat nach Europa zurück. Für wen kämpfte er?

 
er kämpfte für England gegen das Hitler-Regime
 
er kämpfte für die Kanadier gegen das Hitler-Regime
 
er kämpfte für die Russen gegen das Hitler-Regime

 

Was geschah mit seinen Eltern und seiner Schwester nach deren Deportation 1940 nach Gurs/Rivesaltes?

 
sie blieben bis Kriegsende im Lager Rivesaltes
 
sie wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet
 
sie konnten nach Amerika auswandern