5.3.1 Gurs-Deportation: Erster Schritt der Nationalsozialisten zur „Endlösung der Judenfrage“
– Die Ursachen, der Umfang und die Umstände der Transporte -

Über 6500 jüdische Menschen wurden am 22.10.1940 aus dem Saarland, der Pfalz und aus Baden zunächst nach Gurs, dann 1942/43 in die Vernichtungslager u.a. nach Auschwitz bei Kattowitz/Polen deportiert. Darunter waren 52 Personen aus Mutterstadt. Ca. 820 Personen aus der Pfalz haben nicht überlebten, darunter 33 Menschen aus Mutterstadt. Ab 1933 bis 1940 konnten ca. 4000 jüdische Menschen aus der Pfalz in die USA auswandern. Verantwortlich für diese Deportation waren die NS-Gauleiter Bürckel und Wagner, wobei Bürckel seit 1938 entsprechende "Deportationserfahrung" in Wien gesammelt hatte. [000]

Das Lager Gurs 1938, in primitiver Konstruktion für Internierte im Zusammenhang mit dem spanischen Bürgerkrieg durch Frankreich erbaut, nahm 1940 zunächst französische Juden aus dem von Deutschland besetzten Elsaß und aus Lothringen auf. Nachdem diese den NS-Gauen "Westmark" = Saarland/Pfalz / Teile von Lothringen und "Oberrhein" = Baden/Elsaß zugeschlagen wurden, schob man alle jüdischen Menschen aus den Gauen nach Gurs ab. Ziele waren auch die Lothringer und Elsässer "einzudeutschen" und den jüdischen Bevölkerungsteil vollständig zu deportieren. [000]

Nationalsozialistische Aktionen, soweit diese direkte Auswirkungen auf den Bürger hatten und dessen Widerstand herausfordern konnten, wurden stets ohne Aufmerksamkeit zu erheben abgewickelt. Obiges Dokument ist ein Beispiel. Zwei Züge brachten die pfälzer Juden über Lyon, Toulouse nach Oberlon, von dort per LKW in das 13 km entfernte Lager. Dies nach einer Fahrt von vier Tagen und drei Nächten. Selbstmorde vor dem Abtransport, Todesfälle während und kurz nach dem Transport und schlimme Lagerbedingungen waren die Begleiterscheinungen. [000]

Obige Grafik gibt bei genauem Studium u.a. den Hinweis, dass jüngere Menschen 1940 entweder bereits ausgewandert oder beispielsweise Kinder per "Kindertransport" 1939 in das Ausland entkommen konnten. Frauen sind teils durch eine höhere Lebenserwartung als Männer, teils aus der Tatsache heraus, dass ihre Männer zunächst alleine ausgewandert sind, überdurchschnittlich vertreten. Die Deportationsopfer mussten in Stundenfrist ihre Wohnungen mit max. 25 kg Gepäck verlassen. [000]

Hatte die mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft einsetzende Verfolgung der Juden in den Novemberpogromen 1938 ("Reichskristallnacht") zunächst ihren Höhepunkt erreicht, so begann im Oktober 1940 für den Großteil der in Baden, der Pfalz und dem Saarland lebenden Juden der Weg in den Holocaust. Ca. 6500 Frauen, Männer und Kinder – vom Säugling bis zum 98-jährigen Greis – wurden am 22. Oktober 1940 auf Veranlassung der Gauleiter Robert Wagner und Joseph Bürckel in einer beispiellosen Aktion in das am Rande der Pyrenäen im unbesetzten Frankreich gelegene Internierungslager Gurs verschleppt. Für die meisten von ihnen wurde dieses Lager zur Vorstation von Auschwitz.

Die Abschiebung des Großteils der letzten jüdischen Einwohner bedeutete gleichsam das Ende der jüdischen Gemeinden in den Städten und Dörfern der Pfalz, die 1933 noch 6487 jüdische Einwohner zählten. Aus der Pfalz wurden 1940 – der offiziellen Abschiebungsliste zufolge – 826 Personen deportiert; die tatsächliche Zahl der direkt aus der Pfalz nach Gurs Deportierten dürfte – neueren Detailstufen zufolge – etwas geringer gewesen sein (ca. 810). Zwischen 1933 und 1940 sind schätzungsweise 4000 Juden aus der Pfalz ins Ausland emigriert, überwiegend nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika.

Wie kam es zur Deportation nach Gurs? Nicht ganz zu Unrecht wird sie als "Bürckel-Aktion" bezeichnet und somit – obwohl der badische Gauleiter Robert Wagner an ihrer Durchführung gleichermaßen beteiligt war – dem Gauleiter der Saarpfalz, Joseph Bürckel, zugeschrieben. Er war in seiner Eigenschaft als "Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich" um die "Entjudung" Wiens bemüht und hatte im August 1938 in Wien eine "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" geschaffen, um die Emigration der Juden in seinem Einflussbereich zu forcieren. Inwieweit Bürckel selbst in die im Februar 1940 erfolgte erste größere Deportation von etwa 6000 Juden aus Wien, Prag, Mährisch-Ostrau und Stettin ins Generalgouvernment involviert war, ist nicht eindeutig nachzuweisen, jedenfalls muss sie ihm "zumindest bekannt gewesen sein".

Nach dem Westfeldzug wurden im Waffenstillstandsabkommen im Wald von Compiègne am 22. Juni 1940 Elsaß und Lothringen von Frankreich abgetrennt und (vom 2. August 1940 an) den Gauleitern von Baden und der Saarpfalz unterstellt. Während drei Fünftel Frankreichs nördlich der Linie Genf – Dôle – Tours – Mont-de-Marsan sowie der französischen Atlantikküste bis zur spanischen Grenze von deutschen Truppen besetzt war und einem Militärbefehlshaber in Paris unterstand, wurde das verbliebene unbesetzte Gebiet von einer französischen Regierung unter Ministerpräsident Marschall Henri Philippe Pétain in Vichy verwaltet. Gemäß Artikel 19 des Waffenstillstandsvertrages war "die französische Regierung verpflichtet, alle in Frankreich sowie in den französischen Besitzungen befindlichen Deutschen, die von der deutschen Reichsregierung namhaft gemacht werden (konnten), auf Verlangen auszuliefern".

Nachdem Hitler am 2. August 1940 Joseph Bürckel zum "Chef der Zivilverwaltung in Lothringen" und Robert Wagner zum "Chef der Zivilverwaltung im Elsaß" ernannt und ihnen auferlegt hatte, die annektierten Gebiete "einzudeutschen", begannen die beiden Gauleiter eilfertig mit der Ausführung des ihnen erteilten Auftrages.

Bis Mitte September 1940 wurden bereits über 23 000 der NS-Regierung missliebige Franzosen, vor allem Juden, in das unbesetzte Frankreich ausgewiesen. In einer Besprechung in der Reichskanzlei informierte Hitler am 25. September 1940 Bürckel und Wagner nach deren Vortrag über seine Absicht, die Saarpfalz mit Lothringen zum "Gau Westmark" und Baden mit dem Elsaß zum "Gau Oberrhein" zusammenzuschließen. Bei dieser Zusammenkunft habe – laut Bormann, der an dem Gespräch teilgenommen hat – Hitler betont, "dass er von den Gauleitern nach 10 Jahren nur eine Meldung verlange, nämlich, dass ihr Gebiet deutsch und zwar rein deutsch sei. Nicht aber werde er sie danach fragen, welche Methoden sie angewandt hätten, um das Gebiet deutsch zu machen…"

Wagner und Bürckel erhielten von Hitler "fast unbeschränkte Vollmachten, ohne Rücksicht auf anzuwendende Methoden", so dass sie "eine alle Verwaltungstradition durchbrechende quasi – führerunmittelbare Stellung" für sich durchsetzen konnten. Ihre Absicht war es, dem Führer in kurzer Zeit rein "arische" Gaue präsentieren zu können. Die beiden Gauleiter beschlossen nun – analog zur Ausweisung der missliebigen Elsässer und Lothringer – die Juden ihrer beiden Altgaue Saarpfalz und Baden ebenfalls ins unbesetzte Frankreich abzuschieben. Über die Vorbereitung liegen kaum Quellen vor, obwohl die Aktion "von Regierungsstellen und von der Gestapo von langer Hand vorbereitet" worden war. Vom 15. Oktober datiert ein Erlass des badischen Innenministeriums an die Landratsämter, der den Einsatz des Polizeiapparates und anderer lokaler Vollzugsorgane zum Abtransport der Juden regelt. Die den Juden der Saarpfalz wenige Stunden vor ihrer Verschleppung zugestellten Ausweisungsbefehle trugen das Datum vom 20. Oktober und wurden von Bürckel in Metz unterschrieben. Ein in der Pfalz verbreitetes undatiertes "Merkblatt für eingesetzte Beamte", ("Anweisungen für die Beamten, die bei der Deportation der pfälzischen Juden eingesetzt werden, Vermerk: Geheim!"), ist wohl zur gleichen Zeit von Metz aus in Umlauf gesetzt worden. TOURY vermutet, dass die Vorbereitungen zum Abtransport aus Baden, die am 15. Oktober begannen, "vielleicht um einige Tage früher als die in der Saarpfalz" ansetzten.

Am frühen Morgen des 22. Oktober 1940 wurden schließlich die in der Pfalz, in Baden und im Saarland lebenden "transportfähigen Volljuden" in ihren Wohnungen festgenommen und abtransportiert.

Die höchste Zahl an Deportierten ist für Ludwigshafen nachgewiesen. Unter ihnen fanden sich eine Reihe von Juden, die sich erst kurze Zeit hier aufgehalten hatten, die aus dem Dorf oder der Kleinstadt in die anonyme Großstadt gezogen waren. So sind in den dreißiger Jahren, insbesondere nach den Novemberpogromen 1938, zahlreiche pfälzische Juden in die badischen Großstädte Mannheim und Karlsruhe verzogen. Soweit sie sich im Oktober 1940 noch dort aufgehalten haben, widerfuhr ihnen das gleiche Schicksal. Die meisten der 326 jüdischen Bürger, die zwischen 1933 und 1940 aus der Pfalz nach Baden-Württemberg gezogen sind, wurden ebenfalls nach Gurs deportiert, so dass die Zahl der tatsächlich nach Gurs deportierten Pfälzer bei weit über 1000 gelegen haben muss.

Wie das Schaubild zeigt, gehörten die meisten Deportierten der Altersgruppe der 47- bis 70-jährigen an, d.h. der Geburtsjahrgänge 1870 bis 1893. Die beiden ältesten waren 87 bzw. 88 Jahre alt! Deportiert wurden 63 Kinder (bis 17 Jahre); zwei von ihnen waren nur wenige Monate alt.

Während die aus Baden deportierten Juden in sieben Transportzüge eingeladen wurden, setzten sich aus der Pfalz zwei Züge in Bewegung. Vier Tage und drei Nächte waren die Züge unterwegs über Mühlhausen, Dijon, Belfort, Lyon, Avignon, Sète, Carcasonne, Toulouse, Lourdes und Pau nach Oloron-Sainte-Marie am Rande der Pyrenäen. In Oloron wurden die aus ihrer Heimat Verschleppten von den Zügen auf Lastwagen "verladen" und in das 13 km entfernte Lager Gurs gebracht.

Schon während des Transports waren einige, insbesondere ältere Frauen und Männer verstorben, wie z.B. die 80- jährige Helene Decker aus Marnheim und der 82-jährige Michael Mayer aus Iggelheim. Andere starben bald nach der Ankunft in Gurs.

Am 29. Oktober 1940 ließ der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Heydrich, das Auswärtige Amt in Berlin wissen, dass am 22./23. Oktober 6504 Juden aus Baden und der Pfalz "im Einvernehmen mit den örtlichen Dienststellen der Wehrmacht, ohne vorherige Kenntnisgabe an die französischen Behörden, in den unbesetzten Teil Frankreichs über Chalon-sur-Saône gefahren wurden". "Die Abschiebung" – so Heydrich weiter – sei "in allen Orten Badens und der Pfalz reibungslos und ohne Zwischenfälle abgewickelt worden". Der Vorgang der Aktion selbst" sei "von der Bevölkerung kaum wahrgenommen" worden.

Autor: Roland Paul, Jahrgang 1951, ist stellvertretender Direktor des Instituts für pfälzische Geschichte und Volkstum in Kaiserslautern. Paul ist anerkannter Fachmann u.a. für die Thematik Emigration und Deportation des jüdischen Bevölkerungsteils aus Südwestdeutschland in das südwestfranzösische Lager Gurs 1940. Der Autor hat u.a. in dieser Hinsicht umfangreich publiziert und berät u.a. die Rheinland-Pfälzische Landesregierung. Er pflegt gute Kontakte zum Leo Baeck Institut in New York und auch zu zahlreichen jüdischen Emigranten in der ganzen Welt.

Fotos und Sonstiges, sowie die dazugehörenden Texte, die Autoren-Kurzbiographie, sowie die Multiple-Choice-Fragen wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.
Quelle: Siehe Quellennachweis Titel 9 (Nr. 000)

Für Schulen: Multiple-Choice-Fragen zu dem oben stehenden Artikel

- Mehrere Antworten können richtig sein -

Wie viele jüdische Menschen wurden 1940 vom Saarland, der Pfalz und Baden in das südwest-französische Gurs deportiert?

 
ca. 10 000 Personen
 
ca. 6 500 Personen
 
1 000 Personen

 

Wie hießen die nationalsozialistischen Gaue, aus denen jüdische Menschen 1940 deportiert wurden?

 
Gau "Pfalz und Baden"
 
Gau "Oberrhein" und "Westmark"
 
Gau "Südwestdeutschland"

 

Wie viele Deutsche jüdischer Herkunft konnten in der Zeit von 1933 bis 1940 aus der Pfalz auswandern?

 
ca. 20 000
 
ca. 4 000
 
ca. 10 000