5.3.7 Mutterstadt: Die Gurs-Deportation 1940 als Abschluss der sich vom jüdischen Bevölkerungsteil abgrenzenden Machtausübung der Nationalsozialisten
– Namen der im Lager Gurs verstorbenen Mutterstadter -

In Zusammenhang mit einer Studienreise 1999 nach Gurs, organisiert von der „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Rhein-Neckar“, entstand obiges Foto. Frau Külbs geb. Dellheim zeigt wie anklagend auf den Grabstein des Isidor Eppler, Gursopfer aus Mutterstadt. Der Gurs-Deportation, 1940, vorausgegangen war, ab der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, eine sich immer verstärkende Diskriminierung, Ausgrenzung und Isolierung des jüdischen Bevölkerungsteils. Nach einer Phase der Verdrängung der damaligen Geschehnisse bis in die 1980er Jahre, auch in Mutterstadt, setzte sich in Deutschland eine Gedenken- und Versöhnungskultur durch. [000]

Frage: Gab es irgendwelche negativen Aspekte während der NS-Zeit bezüglich dem Zusammenleben zwischen Juden und Nichtjuden?

W. Dellheim: Mit den katholischen Bürgern in Mutterstadt gab es keine Schwierigkeiten im Hinblick auf das Zusammenleben, während der Hitlerzeit. Mit den katholischen Bürgern hat man nicht viele Probleme gehabt. Ein Katholik hätte auch nie was gemacht beispielsweise irgendetwas zusammengeschlagen. Aber mit den Protestanten war das etwas anderes. Ausnahme war der Pfarrer Bähr.

Frage: Und vor der Nazizeit, also vor 1933, wie haben Juden und Nichtjuden zusammengelebt?

W. Dellheim: Spannungsfrei, es ist niemandem einge-fallen „Jude“ zu sagen. Das ist überhaupt nicht vorgekommen.

Frage: Haben sich katholische Bürger und jüdische Bürger in verschiedenen Wirtschaften getroffen oder war das gemischt?

W. Dellheim: Jetzt will ich eines sagen, alte Juden, die hier waren, mein Großvater, Theodor Marx, der Hermann Löb, haben sich samstags mittags im „Ochsen“ getroffen. Jeder ist in den „Ochsen“ gegangen, jeder von denen bis 1935. Und dann ist es nicht mehr gegangen. Dann sind sie zu „Maase“ gegangen. Die jüdische Bäckerei Maas haben alles Mögliche verkauft und dann saßen sie dort. Es gab aber immer noch verschiedene Christen, die mittags mit denen Karten gespielt haben und die auch zu „Maase“ gegangen sind. Die waren es gewöhnt, Karten zu spielen und der Frosch Leopold, der hat dort gewohnt, und sein Bruder, die waren genauso oft dort draußen in der Fußgönheimer Str. gesessen, wie die Juden. Bis zum Ende 1937.

Frage: In Prozenten und Zahlen: Wie viele Mutterstadter waren antijüdisch eingestellt?

W. Dellheim: 1933 waren es noch keine 50%, die gewählt haben, und noch keine 40%, die aggressiv gegen Juden vorgegangen sind. Das waren meistens welche aus dem Unter-Dorf, die hat man ganz genau gekannt. Von den Wählern in Mutterstadt, die aggressiv vorgegangen sind, bis zum Jahr 1933/34 waren noch keine 20%. Mutterstadt hatte damals, 1939, 4 000 Einwohner, als ich fort bin.

Frage: Das wären aber dann immerhin 800 Personen gewesen.

W. Dellheim: Ja, im Unter-Dorf gab es ca. 800 Leute. Die waren die ersten. Wenn man ins Ober-Dorf ging, 1933/34, sagte kein Mensch etwas. Dann wurde es schlimmer, mit jedem Jahr.

Die Lebensumstände des jüdischen Bevölkerungsteils im Gurs-Deportationsgebiet, auch in Mutterstadt, unterschieden sich nicht von dem nichtjüdischen Umfeld. Viele Freundschaften, Hilfestellungen und Aktionen gegenseitiger Unterstützung kennzeichnen das Zusammenleben der meisten Bürger gleich welcher Religionszugehörigkeit. Der Zeitzeugenbericht ist ein Beispiel. [000]

Es ist einen Versuch Wert, das Lebensumfeld jüdischer Mutterstadter vor der Gurs-Deportation am 22.10.1940 nachzuempfinden. Dazu ein Beispiel, mit welch rigorosen Mitteln die Nationalsozialisten in Mutterstadt vorgegangen sind und auf Geschehnisse zwischen Juden und Nichtjuden reagierten, die im zwischenmenschlichen Bereich auszusiedeln sind.

Es dreht sich um die Freundschaft zwischen dem damaligen 2. Bürgermeister Emil Memel und dem Großvater von Werner Dellheim, der mit dem Kindertransport im Januar 1939 über England nach Südamerika entkommen konnte. Memel, gebürtig aus Harthausen, in der Rheingönheimer Str. in Mutterstadt wohnend, der seine Mutterstadter Frau durch „verschachern“, wie Werner sich ausdrückt, seitens seines Großvaters gefunden hatte, waren dicke Freunde. Dellheim, ein Pferdehändler, wurde vom 2. Bürgermeister wegen seiner Fachkenntnisse und seinen Beziehungen mit ins Badische genommen, um für den Fasselstall der Gemeinde Heu zu kaufen.

Ein paar Monate später war Memel wegen dieser Reise ins Badische kein Bürgermeister mehr, nachdem dieser Fakt ausgiebig im nationalsozialistischen Gemeinderat erörtert und für Memel in beleidigender Weise abgehandelt worden war.

Zusammen mit dem Interview, abgedruckt im nachstehenden Zeitzeugendokument des Werner Dellheim, lässt die „Memel-Geschichte“ ganz konkrete Schlüsse auf das Bedrohungspotential seitens der NS-Aktivisten zu, Bürgern gegenüber, die zu judenfreundlich waren. Aber auch auf das nachbarschaftliche Zusammenleben. Eine Folgerung zu ziehen ist offensichtlich: Von der Reichsführung gesteuerte lokale NS-Funktionäre motivieren lokale NS-Aktivisten, denen es im Laufe der 1930er Jahre gelingt, ein immer größer werdendes Wählerpotential in Mutterstadt zu gewinnen.

Ein Mittel unter mehreren: Rassenhetze, Neidgefühlaktivierung, Tatsachenverdrehung und der Hinweis der Aktivisten, zukunftsträchtige wirtschaftliche und soziale Erfolge vorzeigen zu können, dies alles zusammen brachte eine teils wegschauende, teils am Schicksal des jüdischen Bevölkerungsteils desinteressierte Allgemeinstimmung zustande. Dies vor allem in den Monaten vor der Synagogenniederbrennung 1938 und der Gurs-Deportation 1940.

Sozial und gesellschaftlich von der übrigen Mutterstadter Bevölkerung isoliert, warteten die jüdischen Bürger, spätestens ab 1937, soweit sie nicht schon zuvor Deutschland verlassen hatten, auf ein unbekanntes Schicksal. Dies ereilte sie am 22.10.1940. Werner Dellheim gibt in Bezug auf die ehemalige jüdische Gemeinde aus dem Blickwinkel des Jahres 1994 in seinem Interview authentische Hinweise über die Lebensumstände einzelner Bürger.

Auskunft gibt es auch in dem Brief von 1941, der Deportierten, in Gurs eingesperrten von dort über Portugal nach New York, USA, ausgewanderten 71-jährigen Ida Löb.

Ida am Morgen des 22.10.1940, dem Tag des Abtransportes von Mutterstadt nach Ludwigshafen: „…hättet ihr uns doch gleich erschossen“!

Alle 6 500 Deportierten, darunter 51 Personen aus Mutterstadt, schauten in einen Abgrund von Niedertracht und Ungerechtigkeit. Auf Mutterstadt bezogen ist nur insoweit hinzuzufügen, dass die Betroffenen per Bus unter einem NS-Transportführer in die Maxschule, Maxstraße, Ludwigshafen gebracht wurden, um mit Hilfe von Deportationszügen ab Ludwigshafen über Landau, Pirmasens, Nancy, Macon, Toulouse in Oleron/Südfrankreich gebracht zu werden.

Von dort ging es dann per Bus, meistens aber per LKW ins ca. 8 km entfernte Lager Gurs.

Rückblickend aus dem Jahr 2002 und nachdem Mutterstadt ab 1945, dem Kriegsende, bis um 1985 eine Zeitphase von 40 Jahren kollektiver Verdrängung der Gurs-Deportation durchgemacht hat, ist ein Wandel feststellbar.

Der Wandel liegt in der Bereitschaft der Mehrheit der Bevölkerung den damaligen Geschehnissen unter den Nationalsozialisten, u.a. der Gurs-Deportation, zu gedenken.

Der Mutterstadter Jude Werner Dellheim schreibt Einzelheiten in seinem nebenstehenden Zeitzeugendokument.

Besonders Opfer der Nationalsozialisten, aber auch andere Bürgerinnen und Bürger aus Mutterstadt, haben bis heute, 2002, die Gedenkstätte und den Friedhof in Gurs besucht. Es sind meistens Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer u.a. mit dem lokalen zivilisatorischen Bruch im Zusammenleben der Bürger beschäftigt haben.

Also von Bürgern, die sich, auch bezogen auf so genannte Rassenmerkmale, durch nichts von Nichtjuden unterschieden, wie alle Fotos von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern zeigen. Der Übersicht halber sind, bezogen auf die Gesamtzahl der jüdischen 51 Bürger, die am 22.10.1940 von Mutterstadt aus deportiert wurden und zuzüglich der 18 Personen, zusammen also 69 Bürger, die eng mit Mutterstadt verbunden waren, als Todesopfer zu nennen:

Hinweis: Die 18 Personen setzen sich zusammen aus hier wohnenden Bürgern, die vor dem Deportationstag weggezogen sind oder sich an diesem Tage zufällig nicht in Mutterstadt aufgehalten haben. Es sind nur die in Gurs und in Nebenlagern, also nicht in Auschwitz oder sonstwo, zu Tode gekommenen Bürger erfasst.

Im südwestfranzösischen Lager Gurs nach dem 23.10.1940 zu Tode gekommende Mutterstadter
– Ehre ihrem Andenken -

  1. Adelsheimer, Laura, geb. am 30.10.1887, über Mannheim nach Gurs gebracht. Dort verschollen.
  2. Loeb Florentine (Flora), geb. 3.10.1868, in Gurs verschollen.
  3. Dellheim Fritz, geb. 25.01.1900, in der Mutterstadter Judenkartei unbekannt, jedoch in anderen Listen erfasst. In Gurs verschollen.
  4. Metzger Leo, geb. 16.12.1875, Speyerer Straße 11. In Gurs verschollen.
  5. Metzger Berta, geb. Loeb, geb. 29.08.1884. In Gurs verschollen.
  6. Maas Isidor, geb. 28.03.1876, Speyerer Straße 11. In Gurs verschollen.
  7. Maas Klara, geb. 15.08.1877, Speyerer Straße 11. In Gurs verschollen.
  8. Loeb, Jakob, geb. am 12.01.1900, Bruder von Ernest Loeb, in Gurs verschollen.
  9. Simon, Walli, geb. am 12.02.1882. Kam am 30.09. 1926 v. Bobenheim n. Mut. Verschollen in Gurs.
  10. Weissmann, Elisabeth, geb. Loeb, geb. am 01.05.1861. Gestorben am 15.04.1941.
  11. Dellheim, Arthur, geb. 11.11.1862, gestorben am 11.01.41 (Grab Nr. 633)
  12. Eppler Isidor, geb. 16.03.1868, Neustadter Straße 15, am 11.01.1941 in Gurs verstorben (Grab Nr. 633)
  13. Eppler Berta, geb. Neu, geb. 04.06.1872, Neustadter Straße 15, gestorben 17.04.1944 in Marseille.
  14. Loeb Ferdinand, geb. 01.05.1866, Speyerer Straße 1, gestorben 13.12.1943 in Masseube.
  15. Loeb Bernhard, geb. 02.10.1870, Neustadter Straße 2, gestorben 30.12.1944 im Lager Nexon.
  16. Loeb Friedrich, 31.05.1881, Speyerer Straße 46, gestorben 09.01.1942 in Gurs.
  17. Loeb Charlotte, geb. 28.01.1869, Speyerer Straße 58, gestorben 5.12.1942 im Lager Rivesaltes.
  18. Marum Emma Esther, geb. Frank, geb. 05.03.1837, Dannstadter Straße 15, gestorben 11.12.1940 in Gurs.

Quelle: Antifa-Archiv, Hermann Morweiser, Ludwigshafen für die Personen 1-18.

Autor: Herbert H.W. Metzger, Jahrgang 1940, unternehmerisch tätig, amtierte v. 1980-1990 als Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt. Im Rahmen von 2 Bürgeraktionen und Herausgeber dieser Publikation engagiert er sich das Unrecht, begangen an der ehemaligen jüdischen Gemeinden in Mutterstadt und der Pfalz, zu relativieren und vor allem die Jugend über das Schicksal des Pfälzer und Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteil zu informieren.

Fotos und Sonstiges, sowie die dazugehörenden Texte, die Autoren-Kurzbiographie, sowie die Multiple-Choice-Fragen wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.
Quelle: Siehe Quellennachweis Titel 9 (Nr. 000)

Für Schulen: Multiple-Choice-Fragen zu dem oben stehenden Artikel

- Mehrere Antworten können richtig sein -

Gibt es deutschlandweit nach 1945 bezüglich den antijüdischen Ausschreitungen während der Herrschaft der Nationalsozialisten, 1933-1945, Reaktionen?

 
ja, Anstrengungen des Gedenkens und Versöhnens
 
wie neben, jedoch nur bei Politikern
 
wie neben, durch die Kirchen

 

Was kennzeichnete das Zusammenleben des jüdischen und des nichtjüdischen Bevölkerungsteils?

 
strikte Abgrenzung voneinander
 
viele Freundschaften
 
gegenseitige Unterstützung, wenn notwendig

 

Welche Maßnahmen ergriffen die Nationalsozialisten ab 1933 gegen den jüdischen Bevölkerungsteil?

 
die Juden wurden diskriminiert
 
die Juden wurden ausgegrenzt
 
die Juden wurden deportiert

 

Wie viele Mutterstadter jüdischer Herkunft sind in Gurs zu Tode gekommen oder verschollen?

 
18 Personen
 
69 Personen
 
51 Personen