7.2.10 Gurs-Deportation 1940: Das offizielle Mutterstadt entschuldigt sich
– Bürgermeister-Vorwort zum Internet-Auftritt www.judeninmutterstadt.org und im Amtsblatt der Gemeinde vom 10.10.02 -

17 Tage bevor sich die Deportation u.a. des Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteils 1940 zum 62. Male jährt, am 10. Oktober 2002, erscheint im Amtsblatt der Gemeinde nachstehender Artikel.

Zum Gedenken an Mutterstadter Bürger jüdischer Religion oder Herkunft

Am 22.10.1940 mussten die Mutterstadter jüdischer Religion oder Herkunft unter Mitwirkung der Gemeindeverwaltung in Stundenfrist ihre Wohnungen verlassen.

Sie wurden zunächst in das südwestfranzösische Deportationslager Gurs und, soweit diese Menschen dort nicht gestorben sind oder auswandern konnten, ab 1942 in das Vernichtungslager Auschwitz in Polen gebracht.

In diesem Zusammenhang wurden 33 Mutterstadter Bürger jüdischer Religion oder Herkunft getötet.

In einem Presseartikel, also öffentlich, habe ich diese Fakten als die dunkelsten Stunden in der mehr als 1200-jährigen Geschichte von Mutterstadt bezeichnet.

Nach 1980 haben sich Mutterstadter Bürger unter Miteinbeziehung der protestantischen und katholischen Kirche sowie des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt, im Rahmen der deutschlandweiten Gedenken- und Versöhnungskultur u.a. um die damaligen überlebenden Opfer und ihre Nachkommen gekümmert. Vorher gab die Gemeindeverwaltung anlässlich des 30. Jahrestages der Gründung des Staates Israels, 1978, in der jüdischen Zeitung „Israel Nachrichten“ eine Anzeige auf, um Israel und den dort wohnenden Persönlichkeiten aus Mutterstadt ihre Referenz zu diesem Jahrestag zu erweisen.

Wir haben hier in Mutterstadt der offiziellen Gedenktage „Synagogenverbrennung 1938″ und „Gurs-Deportation 1940″ in würdiger Weise begangen, vor allem jedoch im Ehrenhof des Neuen Friedhofes jetzt zwei Gedenktafeln, die an den ehemaligen jüdischen Bevölkerungsteil in würdiger Weise erinnern.

Um so erfreulicher ist es für meine Seite festzustellen, dass im Rahmen von zwei Bürgeraktionen und der damit verbundenen Platzierung einer Namensgedenktafel und der Internet- und Buchpublikationen „Die ehemalige Mutterstadter jüdische Gemeinde, die Gurs-Deportation 1940 und Auschwitz“ in deutscher und englischer Sprache unser Gemeinwesen, einschließlich der ehemaligen jüdischen Gemeinde, in umfangreicher und professioneller Weise dargestellt wird.

Was m. E. besonders zu würdigen ist und damit meine uneingeschränkte Zustimmung findet, sind mehrere Charakteristika dieser Dokumentation:

Sie richtet sich u.a. nicht nur an den ehemaligen jüdischen Bevölkerungsteil und ihre Nachkommen, sondern schließt darüber hinaus Mutterstadter jüdischer Herkunft beispielsweise als Mitautoren der Textbeiträge und als Interviewpartner gleichrangig ein. So als seien diese immer noch Teil unserer Bevölkerung, lediglich Abwesende von Mutterstadt. Weiterhin beeindruckt die Absicht der Publikationen, u.a. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte in Mutterstadt und in den Gemeinden

anzusprechen, die u.a. in der Pfalz, vor 1940, einen jüdischen Bevölkerungsteil hatten. Dies geschieht durch die Bereitstellung von Informationen in pädagogisch-didaktisch angemessener Weise.

Auch halte ich es für richtig, noch auf die Publikation als solche einzugehen: Bürgerinnen und Bürger, Schülerinnen und Schüler können auf objektive, Zusammenhänge erfassende, geschichtliche Informationen bezüglich dem jüdischen Bevölkerungsteil von Mutterstadt genauso zurückgreifen wie auf eine Art „Portrait“ der Deportationsopfer, also von Persönlichkeiten wie du und ich. Dies hat den Vorteil, dass 2002 mit Hilfe dieser Informationen kompetent gegen den latenten und sich immer wieder äußernden Antisemitismus und Neonazismus argumentiert werden kann.

Letztlich danke ich allen Autorinnen und Autoren für ihre Textbeiträge, die in ihrer Gesamtheit ein lebendiges, informatives und geschichtsbezogenes Bild des jüdischen und nichtjüdischen Mutterstadt aufzeigen. Für heute lebende genauso wie für zukünftige Generationen ergibt sich eine Möglichkeit, sich mit ihrer Heimatgemeinde besser zu identifizieren.

Mutterstadt bedankt sich bei den Personen, die diese umfangreiche Publikation ermöglicht haben.

Es gilt jedoch noch eine andere Erklärung abzugeben: Die Diskriminierung des jüdischen Bevölkerungsteils ab 1933 und die Deportation in das Lager Gurs, 1940, erfolgte mit teils stillschweigender Zustimmung der nichtjüdischen Nachbarn mit in der NS-Partei aktiven Mutterstadtern. Es schließt dies die Mitwirkung von Gemeinderat und Gemeindeverwaltung ein. Es gab somit Unterstützung dieser Maßnahmen von offizieller Seite. Deshalb möchte die im Jahre 2002 amtierende Verwaltungsspitze, also Bürgermeister und Beigeordnete, sich für die damaligen Ereignisse bei dem jüdischen Bevölkerungsteil entschuldigen.

E. Ledig
Bürgermeister

Am 27.10.2002, 10:30 Uhr, wird durch die Enthüllung der Gedenktafel mit den Namen der 52 Gurs-Deportierten eine dunkle Seite in unserer örtlichen Geschichte in Erinnerung gerufen. 33 dieser Menschen wurden 1942/43 in Auschwitz umgebracht.

Unsere Bürgeraktion hatte bezüglich Namhaftmachung der Opfer hierzu einen entsprechenden Antrag an den Gemeinderat gestellt, der diese Gedenkmaßnahme billigte. Weiterhin wurde ein Solidaritätsaufruf zu einer Unterschriftensammlung und eine Spendenaktion gestartet, die den Gemeinderatsbeschluss, eine Namensgedenktafel zu platzieren, unterstützte.

Weiterhin wurde eine ca. 170 DIN A4-seitige Internetdokumentation erarbeitet: „Die ehemalige Mutterstadter jüdische Gemeinde, die Gurs-

Deportation 1940 und Auschwitz“. Sie ist unter dem Domain-Namen www.judeninmutter-stadt.org ab 27. Oktober 2002 aufrufbar.

Der im Endzustand auf ca. 450 DIN A4 Seiten anwachsende Internetauftritt, der auch als Buch erscheinen wird, richtet sich u.a. an Schülerinnen und Schüler im „Gurs-Deportationsgebiet“ also im Saarland, der Pfalz und an Baden. 135 Kurzgeschichten, geschrieben von insgesamt 35 jüdischen und nichtjüdischen Autorinnen und Autoren, alle irgendwie mit Mutterstadt verbunden, geben ein lebhaftes, informatives Bild u.a. über den hiesigen ehemaligen jüdischen Bevölkerungsteil ab.

Vorworte u.a. von Ministerpräsident Kurt Beck und Unterstützerbriefe u.a. von Altkanzler Dr. Helmut Kohl und des Holocaust Memorial Museum in Washington, nehmen auf diese Publikation Bezug. Das wichtigste Ziel dieser Internetpublikation ist es, jungen Menschen online, beispielsweise im Religions-, Ethik- und Geschichtsunterricht, mit Informationen zu versorgen und zu ermöglichen, sich Argumente und Wissen zu verschaffen, und so auch neonarzistischen Sprüchen Paroli zu bieten.

Außerdem wird ein geschichtlicher Spiegel von Mutterstadt über einen Zeitraum des 18. bis 21. Jahrhunderts nachgezeichnet.

Der Mutterstadter Jude Alfred Dellheim, der 1939 als 15-Jähriger per „Kindertransport“ nach England emigrieren musste, wird an der Enthüllung der Gedenktafel teilnehmen und auch vor Jugendlichen in der Schule und in der Kirche über seine Erlebnisse sprechen. Ein glücklicher Umstand für Mutterstadt, wie wir meinen.

Die Bürgeraktion ist letztlich dankbar über das nachstehende Vorwort von Bürgermeister Ewald für die Gemeindeverwaltung. Bringt es doch auf den Punkt, was in unserem Gemeinwesen spätestens seit 1945 fehlte: ein Wort der Entschuldigung der Mutterstadter seinem ehemaligen jüdischen Bevölkerungsteil gegenüber.

Für die Bürgeraktion „Gedenkmaßnahmen für nach Gurs deportierte Mutterstadter jüdischer Herkunft“

H. P. Jung, G. Matt, H.H.W. Metzger

Das Foto zeigt den Friedhof des Deportationslagers nahe dem südwestfranzösischen Pyrenäenort Gurs (1998). Die Lagerbaracken samt Friedhof in den 1940 Jahre sind verschwunden. Entstanden ist eine vorbildliche Gedenkstätte und ein gepflegter Friedhof mit Grabsteinen u.a. demjenigen des aus der Neustadter Str. in Mutterstadt stammenden Isidor Eppler (2. Reihe, Mitte). Das Foto hat Symbolkraft: Die herbstliche Stimmung erinnert an die Trübsal und Hoffnungslosigkeit, in der die damals hier eingesperrten Menschen verharren mussten. Das „Meer“ der Grabsteine symbolisiert die Monstrosität der Handlungsweise der Nationalsozialisten. [000]

Er ist die Manifestation des Willens der Mehrheit der Bevölkerung, vertreten durch die Gemeindeverwaltung unter dem Bürgermeister Ewald Ledig und unterstützt durch die Bürgeraktion „Gedenkmaßnahmen für nach Gurs deportierte Mutterstadter jüdischer Herkunft“. Dies mit dem Zweck den ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ihren Namen zurückzugeben, sie aus der Anonymität zu entreißen. Die Platzierung einer Namensgedenktafel im Ehrenhof des Neuen Friedhofes der Gemeinde dient diesem Zwecke.

Ihnen, den Opfern, auch ihr Gesicht und ihre Geschichte zurückzugeben, ist die Aufgabe der Internetpublikation „Die ehemalige Mutterstadter jüdische Gemeinde, die Gurs-Deportation 1940 und Auschwitz“.

Ledig erkennt in seinem Vorwort den beachtlichen Vorteil, den das neue, demokratische, Medium „Internet“ bietet, zu dem alle Schulen in Deutschland zwischenzeitlich Zugang haben.

Schülerinnen und Schüler u.a. im Gurs-Deportationsgebiet, also dem Saarland, in Baden und in der Pfalz somit auch in Mutterstadt, sollen durch das Vorhaben einer fakten- und geschichtsbezogenen Information über die verbrecherische Handlungsweise des NS-Regimes argumentationsfähig werden gegenüber einem rechtsradikalen Weltbild anderer.

Unter dem Motto „Mutterstadt, ein Dorf pro Bürger jüdischer Herkunft“ stellt sich der Ort, stellvertretend für alle Kommunen im Saarland, der Pfalz und in Baden im Medium Internet an die Spitze einer Gedenken- und Versöhnungskultur gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsteil.

Diese wird inzwischen deutschlandweit praktiziert.

Mutterstadt stellt sich an die Spitze deshalb, weil zum Einen in Bezug auf das Medium Internet und zu diesem Thema bisher selbst die größten Städte keine vergleichbare Dokumentation über ihren ehemaligen jüdischen Bevölkerungsteil vorhalten.

Zum Anderen ist es ein absolutes Novum, dass die letztlich 450 DIN A4 Seiten starke Internetdokumentation für junge Menschen, für Schülerinnen und Schüler im Unterricht geschrieben wird.

Die Internetpublikation „Die ehemalige Mutterstadter jüdische Gemeinde, die Gurs-Deportation 1940 und Auschwitz“ beinhaltet u.a. das gleichlautende Vorwort des Bürgermeister Ewald Ledig, wie es in dem zuvor zitierten Amtsblattartikel vom 10.10.2002 ebenfalls zitiert ist.

Dieses Vorwort verstärkt eine gar nicht so selbstverständliche Haltung des Bürgermeisters und seiner drei Beigeordneten: Die Worte der offiziellen Entschuldigung der Gemeinde gegenüber den Deportations- und Holocaustopfern, ihren Nachkommen und deren Familien.

Der Bürgermeister Ledig, die drei Beigeordneten Brechtel, Heller und Schneider, die beiden Pfarrer Matt und Jung als Sprecher der Bürgeraktion und der Herausgeber des Internetauftritts „Die ehemalige Mutterstadter jüdische Gemeinde, die Gurs-Deportation 1940 und Auschwitz“ verfolgen noch eine weitere Absicht mit ihrem Engagement zu diesem Thema: Sie möchten den heute in Deutschland oder sonstwo lebenden jüdischen Bürgern deutscher Staatsangehörigkeit signalisieren, dass diese in Deutschland als Gleiche unter Gleichen 2002 und auf Dauer willkommen sind.

Autor: Herbert H.W. Metzger, Jahrgang 1940, unternehmerisch tätig, amtierte von 1980-1990 als Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt. Im Rahmen von zwei Bürgeraktionen und Herausgeber dieser Publikation engagiert er sich, das Unrecht, begangen an der ehemaligen jüdischen Gemeinden in Mutterstadt und der Pfalz, aufzuarbeiten und vor allem die Jugend über das Schicksal des Pfälzer und Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteil zu informieren.

Fotos und Sonstiges sowie die dazugehörenden Texte, die Autoren-Kurzbiographie sowie die Multiple-Choice-Fragen wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.
Quelle: Siehe Quellennachweis Titel 9 (Nr. 000)

Für Schulen: Multiple-Choice-Fragen zu dem oben stehenden Artikel

- Mehrere Antworten können richtig sein -

Warum ist es wichtig, nach begangenem Unrecht sich bei den Opfern zu entschuldigen?

 
Es ist eine Frage der Gerechtigkeit.
 
Eine Entschuldigung gibt Raum für ein befreites Denken.
 
Damit man sein schlechtes Gewissen los wird, falls man eines hat.

 

Haben alle „Gurs-Kommunen“, die in der NS-Zeit einen jüdischen Bevölkerungsteil hatten, hierüber eine Internetdokumentation für Schulen erstellt?

 
Nein, Mutterstadt ist die erste Kommune.
 
Es gibt keine entsprechende Dokumentation.
 
Die meisten Kommunen dokumentieren dies in Büchern oder Museen.

 

Gurs-Deportation: Warum ist es wichtig, dass Bürger im Rahmen einer Bürgeraktion initiativ werden, um das NS-Unrecht an den Juden aufzuarbeiten?

 
Weil man dieses Thema den Politikern nicht alleine überlassen darf.
 
Die Akteure wollen Vorbild für junge Menschen sein, demokratische Rechte auszuüben.
 
Unrechtsaufarbeitung eines Volkes: Es geht jeden Bürger an, auch wenn er selbst unschuldig ist.