7.3.4 Ökumenischer Gottesdienst in der protestantischen Kirche, 2000
– Gedenken zum 60. Jahrestag der Gurs-Deportation, 1940 -

Vorbemerkung:

Am 23.10.2000 initiierten der protestantische Pfarrer H. P. Jung und sein Amtsbruder von der katholischen Kirche, Pfarrer G. Matt, eine ökumenische Gedenkveranstaltung in der protestantischen Kirche. Neben einem Redebeitrag des Bürgermeisters Ewald Ledig trat auch Herbert H. W. Metzger im Auftrag des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt, mit einem Vortrag auf. Es nahmen ca. 450 Besucher am Gottesdienst teil.

Nachstehend der Gottesdienstablauf, die Begrüßung und die Gebete:

Gottesdienstablauf

  1. Orgelvorspiel
  2. Begrüßung (Jung)
    Bußgebet A, Seite 2
  3. Bürgermeister: Information über Gurs
  4. Herbert Metzger: Persönliches Wort
  5. Lied, Seite 10 (nach der Melodie „Komm, Herr, segne uns“)
  6. Gebet (Matt)
  7. Musikalisches Zwischenstück/Chor?
  8. Infoteil: Augenzeugenberichte (Einleitung Matt, zwei Lektoren (kath./prot.)
  9. Lied „Du forderst zum Gedenken“
  10. Namentliches Gedenken (Matt, zwei Lektoren (kath./prot.)
  11. Orgelspiel
  12. Gebet, Seite 6 + Vaterunser (Matt/Jung)
  13. Lied „Freunde, dass der Mandelzweig“
  14. Segen (Jung)
  15. Orgelnachspiel

Begrüßung Pfarrer Jung

Ein dunkles Datum der pfälzischen Geschichte jährte sich gestern zum 50. Mal. Über 6500 Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland wurden an diesem Tag auf Betreiben der Gauleiter Wagner und Bürckel in das in Frankreich gelegene Internierungslager Gurs deportiert, darunter 52 Mutterstadter. Ihre Namen sind uns bekannt, wir werden ihrer nachher gedenken.

Aus diesem traurigen Anlass sind wir heute zu diesem ökumenischen Gedenkgottesdienst versammelt.

Und so begrüße ich Sie alle herzlich – nicht zuletzt auch im Namen meines katholischen Kollegen, der Gemeindeverwaltung und des Historischen Vereins als Mitveranstalter.

Lasst uns innehalten und beten:

Bußgebet A

Herr,
wie war das nur möglich,
dass Menschen,
die jahrelang mit ihren Nachbarn
friedlich zusammen lebten,
sie grüßten,
mit ihnen sprachen und
sie besuchten,
plötzlich alle Verbindungen zu ihnen
abbrachen,
weil es Juden waren?
Mit einem Mal sahen sie weg,
wenn sie ihnen begegneten,
ließen ihre Kinder nicht mehr dort spielen
und vermieden es,
ihre Namen zu nennen.

Herr,
wie war es nur möglich,
dass Menschen,
die das Recht kannten und dafür eintraten,
nichts einzuwenden hatten,
als das Recht zu leben
für Juden immer mehr eingeschränkt und
ihnen schließlich ganz entzogen wurde?

Herr,
wie war es möglich,
dass Menschen,
die klug und nachdenklich waren,
die Meinungen prüften
und sich nicht hinter das Licht führen ließen,
plötzlich alle Lügen und Verleumdungen
über Juden
ungeprüft und unwidersprochen
hinnahmen und nachsprachen?

Herr,
wie war das nur möglich,
dass trotz beispielhaften Verhaltens einzelner
die Kirchen leibliches und seelisches Leiden
unzähliger Unschuldiger gesehen haben,
ohne ihre Stimme für sie zu erheben,
ohne Wege gefunden zu haben,
ihnen zu Hilfe zu eilen?

Bußgebet B

Gott, voller Erschrecken schauen wir auf die Geschichte unseres Volkes. Deutsche, unter ihnen viele Christen und Christinnen, haben ihre Mitmenschen erniedrigt, verfolgt und getötet: Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Menschen, die widersprochen haben. Trauer und Scham überkommen uns angesichts von Kleinmut und Feigheit, die den Menschen die Kraft nahmen, zu widerstehen.
Erwecke unsere Gewissen, dass wir uns der Schuld unseres Volkes stellen und unsere eigene Schuld, die wir heute auf uns laden, erkennen und vor Dir bekennen.

Befreie uns zu neuen Anfängen eines geschwisterlichen Lebens mit allen Menschen.
Hilf uns zu einem guten Verhältnis mit dem jüdischen Volk.
Lass es uns achten als das Volk unserer älteren Geschwister im Glauben an Dich.

Lehre uns diejenigen, die anders sind als wir, zu tolerieren und ihr Anderssein als Bereicherung zu erfahren.
Schenke uns selber Kraft, denen zu folgen, die den Mut zum Widerstand gegen Verfolgung und Mord fanden.
Im geschwisterlichen Glauben an Dich gegründet, befähige unsere Herzen und Sinne dafür, mit anderen Menschen zu denken und zu fühlen. Ohne Ängste um uns selbst lass uns mit ihnen Wege der Hoffnung und des Friedens gehen.

Dazu segne den Dienst Deiner Kirche an allen Orten und in allen Gemeinschaften in unserem Volk. Amen.

Fürbitten

Lasst uns voll Hoffnung zu Gott beten:
Für Christen und Juden, wo sie sich begegnen,
dass sie einander näher kommen und vertrauen können,
dass die Wunden und Verletzungen anfangen zu heilen,
die Christen den Juden zugefügt haben,
dass Schuld ernst genommen und nicht verdrängt wird
und die christlichen Vorurteile überwunden werden,
dafür lasst uns zu Gott beten.

Für die Überlebenden der Deportation und Konzentrationslager, die noch immer gezeichnet sind von dem erlittenen Grauen,
für die Nachkommen, die noch trauern und nicht vergessen können, wie viel Leben vernichtet und zerstört wurde, besonders durch unser Volk,
dass sie Linderung finden in ihrem Schmerz,
dass sie Gottes tröstende Nähe erfahren,
dass sie auf ein Ende von Hass und Verachtung hoffen können,
dafür lasst uns zu Gott beten.

Für Israelis und Palästinenser, Juden, Christen und Muslime,
dass sie ohne Angst leben lernen,
für die Frauen,
dass sie sich und die Kinder mit Hoffnung anstecken,
für die Menschenrechte, dass sie Recht bekommen,
für Politiker auf beiden Seiten,
dass sie ehrlich aufeinander zugehen,
für die Radikalen und Fanatischen,
dass sie vernünftig werden,
für den Frieden, der gut ist für alle,
für Versöhnung in Gottes Land,
für die Kirchen im Nahen Osten,
dafür lasst uns zu Gott beten.

Für alle Flüchtlinge und Heimatlosen auf unserer Erde,
dass sie Aufnahme finden, ein neues Zuhause,
oder heimkehren können in sichere Verhältnisse,
dass Krieg und Verfolgung ein Ende haben;
für alle Minderheiten in der Welt,
dass ihr Wert erkannt und ihnen ihr Lebensrecht zugestanden wird,
dass Rassenhass und Menschenverachtung ein Ende haben
und sichtbar wird, dass Gott allen Menschen zugetan ist,
dafür lasst uns zu Gott beten.

Gott, deine Verheißungen machen uns Mut.
Deiner Barmherzigkeit und Güte vertrauen wir.
Amen.

Der Gottesdienst zeichnete sich u.a. dadurch aus, dass in weiten Passagen Augenzeugenberichte und namentliches Gedenken an die Deportationsopfer durch je einen Lektor aus den beiden Kirchen- bzw. Pfarrgemeinden vorgetragen wurde.

Namentliches Gedenken

In der jüdischen wie in der christlichen Tradition gibt es den Brauch, der Märtyrer im Gottesdienst zu gedenken. In den jüdischen Gemeinden entstanden z. B. im Mittelalter die so genannten Memorbücher mit Namenslisten von Juden, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Dieser Tod wurde oft als Kiddusch HaSchem, als Heiligung des göttlichen Namens verstanden. Auch in der Verfolgung unseres Jahrhunderts gingen Juden mit dem Schma Jisrael auf den Lippen in den Tod. Zur Verlesung kamen die Namenslisten im jüdischen Gottesdienst besonders an Schawuot, dem jüdischen Wochenfest, und an Tischa Beaw, dem Trauertag der zweimaligen Tempelzerstörung.

In unserem Gottesdienst ist die Verlesung der Namensliste eingebettet zwischen zwei jüdischen Gebeten , dem Jiskor, einem Bittgebet, und dem Kaddisch, dem Lobgebet, das in der jüdischen Liturgie selbst in der Trauer das Lob Gottes in den Vordergrund stellt:

Jiskor elohim

Der Herr gedenke in Gnade der Seelen aller Ermordeten. Mögen ihre Seelen aufgenommen sein.
Im Bunde des ewigen Lebens, vereint mit allen Gottesfürchtigen, Frommen und Gerechten. Amen.

Wir erinnern an die jüdischen Kinder/Frauen/Männer, die in unserer Gemeinde gelebt haben und vor 60 Jahren deportiert wurden.

Wir beten in Anlehnung an das jüdische Trauergebet, das noch in Trauer und Verzweiflung am Lob Gottes festhält:

Jitgadal weJitkadasch

Gepriesen sei Dein großer Name. Dein Reich, das Reich der Wahrheit und der Liebe, breite sich aus über die ganze Welt, die Du nach Deinem Willen geschaffen, bald in unseren Tagen, in den Tagen Deines Volkes, das Dir vertraut, darauf sprechet: Amen.
Sein großer Name sei gepriesen bis in Ewigkeit.

Des Friedens Fülle sende Er uns aus den Himmels Höhen, lasse Lebensglück uns zuströmen und allen, die treu ihm dienen. Amen.

Wie Er dem Frieden eine Stätte bereitet in seinen Himmelshöhen, so verleihe Er auch Frieden uns,
ganz Israel und der gesamten Menschheit. Amen.

Autor: Hans-Peter Jung, Jahrgang 1958, ist protestantischer Pfarrer in Mutterstadt (2002), u.a. zusammen mit seinem katholischen Amtskollegen setzt er sich engagiert für die Unrechtsaufarbeitung und Versöhnungskultur in Mutterstadt ein. Dies führte zu ökumenischen Kirchenveranstaltungen anlässlich entsprechender Opfergedenktage. H.-P. Jung ist Mitbegründer der zwei Bürgeraktionen, die im gleichen Sinne agieren.

Autor: Gerhard Matt, Jahrgang 1940, katholischer Pfarrer in Mutterstadt, setzt sich zusammen mit seinen protestantischen Amtskollegen und im Rahmen von ökumenischen Gedenkveranstaltungen für eine Gedenk- und Versöhnungskultur zu Gunsten der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Mutterstadt ein. Matt ist Mitgründer von zwei Bürgeraktionen, die in gleichem Sinne agieren mit dem Wunsch, den NS-Opfern wieder einen Namen, ein Gesicht, eine Geschichte zu geben.

Fotos und Sonstiges sowie die dazugehörenden Texte, die Autoren-Kurzbiographie sowie die Multiple-Choice-Fragen wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.
Quelle: Siehe Quellennachweis Titel 9 (Nr. 000)

Für Schulen: Multiple-Choice-Fragen zu dem oben stehenden Artikel

- Mehrere Antworten können richtig sein -

Wie wird der ökumenische Geist in der protestantischen Kirchengemeinde und in der katholischen Pfarrgemeinde von Mutterstadt umgesetzt?

 
durch gemeinsame Gottesdienste an wichtigen Anlässen
 
durch eine Kooperation von Pfarrern und Institutionen
 
durch gemeinsame Veranstaltungen beider Kirchenchöre beider Konfessionen

Wie werden in der christlichen und jüdischen Religion Märtyrer geehrt?

 
durch Verlesen der Namen im Gottesdienst zu besonderen Anlässen
 
durch Namensregister, die aufbewahrt werden
 
durch ein einmaliges Gedenken nach ihrem Tod

In den letzten drei Abschnitten des obigen Textes wird ein jüdisches Gebet zitiert. Wie unterscheidet sich dieses von einem christlichen Gebet bezogen auf den Inhalt?

 
Unwesentlich. Das jüdische Gebet bezieht sich lediglich auf das jüdische Volk „Israel“.
 
Gar nicht, beide Religionen haben die gleichen ethischen Auffassungen.
 
Sie sind verschieden, weil es diese Gebete in der christlichen Religion nicht gibt.