8.4.1 Deutschland und die Gedenkkultur: Juden,Heimatvertriebene u.a. als NS-Opfer.
Die daraus erfolgende Verantwortung u.a. für Menschen in Israel und Palästina

In Israel: Ein durch Terror nahezu paralysiertes Staatsvolk. [000]

In den Palästinensergebieten: Eine im Gegenterror erstarrte, auf Rache gesinnende Bevölkerung. [000]

Der Leitartikel aus dem Jahr 2002 gibt die bundesdeutsche Staatsräson wieder: Holocausterinnerung, Verantwortungsübernahme, Aussöhnung mit jüdischen Menschen. Dies bei konstruktiver Kritik an den Konfliktparteien beispielsweise im israelisch-palästinensischen Konflikt 2002. Dies als Ausdruck einer Verantwortung, welche Deutschland bereit ist, für Israel und Palästina zu übernehmen. Insoweit gibt obiger Auszug eines „Rheinpfalz“-Leitartikels, Stichwort: Deeskalation, eine Antwort auf die zuvor aufgeführten Presseartikel. [000]

Die Publikation über Auschwitz, Gurs und Mutterstadt hat mir ungefähr 3000 Stunden an Recherchen, konzeptioneller Arbeit, redaktioneller Überlegungen, Autorentätigkeit und Pflege der gewonnenen Freundschaften mit Menschen, die mit dieser Thematik involviert waren, genommen.

3000 Stunden, von denen ich einige auch mit der Überlegung verbracht habe, ob diese Arbeit richtig, sinnvoll ist und ihren Zweck erfüllt, ein komplexes Bild nachzuzeichnen, was unsere ehemaligen jüdischen Mitbürger betrifft.

Dies in der Pfalz oder wie ich auch formuliere im „Gurs-Deportationsgebiet“ vor allem aber in Mutterstadt vor 70 Jahren und bezogen auf die Juden, die hier gelebt und die NS-Verfolgung erlitten haben. Denn ich kenne einen Vorwurf sehr wohl: „…immer wenn Gedenktage kommen, kramt ihr die alten Geschichten heraus, wühlt in uns, den Betroffenen, die schlechten, unvergesslichen, unverzeihlichen Erinnerungen auf, um das institutionalisierte Gedenken anschließend wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen…“

Das ist eine legitime Sicht der Dinge!

Auf der anderen Seite steht auch bei den in diesem Sinne argumentierenden Betroffenen eine Erkenntnis klar vor Augen: Wenn man junge Menschen nicht informieren würde über die rassische Minderheiten verachtende Ideologie der Nationalsozialisten, wie soll verhindert werden, dass sich dieses Verhalten in Deutschland oder sonstwo wiederholt?

Zur Erinnerung: Das Nazi-Regime hat über 50 Mio. Menschen durch Verfolgung und Kriegseinwirkungen auf dem Gewissen!

Wenn ich mir weiterhin vergegenwärtige, welche Bestialitäten 1945/46 vor allem in Ost- und Südosteuropa in Zusammenhang mit der Vertreibung der dort lebenden Deutschen aus ihrer Heimat verbunden waren, werde ich nachdenklich.

Die Nachdenklichkeit besteht darin, dass diese Menschen und ihre Nachkommen zu Recht auf ihr Schicksal verweisen, wenn beispielsweise zu vorgenannten Gedenktagen die „Judenthematik“ in Bezug auf den Nationalsozialismus intensiv abgehandelt wird. Sie fordern, dass ihrem Unglück in vergleichbarer angemessener Weise Aufmerksamkeit geschenkt wird. Denn diese Heimatvertriebenen sind ebenfalls, zumindest indirekte Opfer der Nationalsozialisten.

Diese Bürgerinnen und Bürger, zum Anfang des 21. Jahrhunderts längst integriert in die bundesdeutsche Gesellschaft, wünschen, dass dieser Blick der Dinge nicht außer Acht gelassen wird. Zu Recht!

Und doch nicht ganz, denn die unbeschreiblichen Verbrechen der ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands wurden individuell ausgedacht und durch die Täter individuell umgesetzt. Die Betonung liegt auf dem Wort individuell bei den Vertreibungsverbrechen.

Es fehlte die staatliche Planung im industriellen, strategischen Maßstabe, wie dies beispielsweise auf deutscher Seite während der Wannseekonferenz 1942 praktiziert wurde: Man sah vor, 11 Mio. Juden in Europa zu vernichten. Es fehlte auch der vorauseilende Gehorsam von Staatsdienern und u.a. akademisch gebildeter deutscher Eliten, die eine Rassenvernichtungspolitik umgesetzt haben.

Es fehlte auch bei den Kriegsgegnern dieser unglaubliche Fanatismus „Andersrassige“ unbarmherzig und, in niemals erlahmender Energie, zu töten. Beispiel: Das Kriegsende vor Augen, also im März/April 1945, wurden während der Umverlegung von KZ-Gefangenen in andere Lager, was auch als „Todesmärsche“ bezeichnet wird, bis auf ganz wenige Ausnahmen die bis dato überlebenden KZ-Insassen durch Kälteeinwirkung, Hunger, Durst und Exekution ermordet.

Zurück nach Mutterstadt und der bis Ende der 1970er Jahre fehlenden Versöhnungs- und Gedenkenbereitschaft in Bezug auf die ehemalige jüdische Gemeinde.

Ein gewaltiger Schritt zur Versöhnung war der mehrheitliche Beschluss der Gemeinderäte Ende 2001, die Gursopfer auf einer Gedenktafel namentlich zu nennen. Mit der Durchführung der Unterschriftenaktion der Bürgerinnen und Bürger zwecks Solidarisierung mit diesem Gemeinderatsbeschluss wurde der Wunsch nach Aussöhnung bekräftigt:

Diesem Wunsch nach Aussöhnung wird letztlich auch Rechnung getragen durch das Mitwirken von 35, in der Regel mit Mutterstadt eng verbundenen Autoren und Autorinnen, die die ehemalige jüdische Gemeinde in all ihren Aspekten beleuchten und somit zu einer vielschichtigen informativen Darstellung beitragen.

Soweit zur Erinnerungs- und Versöhnungskultur und ihrer Umsetzung nach dem 2. Weltkrieg, u.a. in Mutterstadt. Aber ist es damit getan?

Das jüdische Volk oder anders formuliert die Europäer jüdischer Herkunft haben sich nach 1945 u.a. in ihrem Staat Israel organisiert. Dieser ist wohl durchaus auch wegen eigener Unterlassungen mit negativen Auswirkungen auf das zweite dort lebende Staatsvolk, den Palästinensern, im Jahr 2002 in eine wirtschaftliche und personenbezogene existenzbedrohende Situation geraten.

Angesichts der Intifada-Selbstmordwelle und der daraus resultierenden Feindseligkeiten sind beide Völker in eine Existenzkrise geraten. Man muss sich fragen, wie man beiden Völkern helfen, für sie Verantwortung übernehmen kann.

Es ist selbstverständlich schwierig, eine Lösung der Probleme anzubieten. Eines erscheint mir jedoch unabdingbar: Die Schaffung einer Zweistaatlichkeit bei strikter Trennung der Völker, wobei der Palästinenserstaat mit Hilfe von Meerwasserentsalzungsanlage, mit Hilfe von arabischer Ölpipelines, mit Hilfe von Kraftwerken und eigener Satellitenkommunikation, eigener Flug- und Seehäfen bei schnellstmöglicher Aufgabe der Gastarbeitertätigkeit der Palästinenser in Israel in jeder Hinsicht unabhängig von Israel werden muss. Dies schließt einen Rückzug der jüdischen Siedler aus den Palästinensergebieten ein, mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Die Palästinenser dürfen in keinen Lebensaspekt in Abhängigkeit von Israel leben müssen.

Darüber hinaus müssen sich die Palästinenser bei Aufgabe des Rückkehrrechts ihrer Vertriebenen nach Israel von der nach dem Führerprinzip organisierten Regierungsform zu einer Form des westeuropäischen Mehrparteienparlamentarismus, wie dieser durch Israel praktiziert wird, umorientieren. Denn solche Demokratien haben noch nie Krieg miteinander geführt!

Und als Letztes: Jüdische und palästinensische Menschen dürfen ihre Politik und somit ihr Leben nicht von Ideologien und deren Führer, gleich welcher Couleur, bestimmen lassen.

Unsere Hilfe dabei: Einmal mehr müssen u.a. wir, die Deutschen, einen finanziellen Beitrag dazu leisten. Diese Hilfe wäre jedoch letztlich eine Hilfe für Israel im Sinne der Verantwortung für das Wohlergehen des jüdischen Volkes gegenüber, zu der wir aus unserer Vergangenheit heraus auch im Jahr 2002 immer noch verpflichtet sind.

Verpflichtet zur Hilfe sind immer die Wissenden! Deutschland hat sein Heimatvertriebenenproblem mit Hilfe des 1949 eingeleiteten Lastenausgleichsgesetz, also dem finanziellen Ausgleich zwischen Kriegsgeschädigten und weniger oder gering Geschädigten gelöst, vor allem aber durch eine vorbehaltlose Integration der in die heutige Bundesrepublik Geflohenen. Dieses Wissen müssen wir u.a. den Palästinensern zur Verfügung stellen.

Verpflichtet zur Hilfe sind immer die Wissenden! NS-Deutschland als Täter hat die Existenz von Millionen Juden vernichtet. Andere Bestialitäten gar nicht erwähnt! Wir kennen uns also durchaus aus, was es bedeutet „ein Volk in Angst“ wie in dem zuvor abgedruckten Leitartikel von Frau Ponger geschildert. Deshalb müssen wir Israel und seinen Menschen jede vernünftigerweise geforderte Hilfe sofort gewähren. Dies schließt durchaus auch Kritik an den in Israel Handelnden ein, wie im Kommentar von Herrn Rodenwoldt dargelegt. Die Aussagen von Frau Ponger und Herrn Rodenwoldt sind aber durch die Gesamtanalyse der jüdisch-palästinensischen Problematik und der damit verbundenen Antisemitismusdebatte in Deutschland zu verbinden. Der Leitartikel des Herrn Garthe gibt Auskunft: Die Erinnerung an den Holocaust ist unabdingbar, damit er sich niemals wiederholt.

In meiner Rede in der protestantischen Kirche am 23.10.2000 im Rahmen des ökumenischen Gottesdienstes und der darin geforderten Platzierung einer Gedenktafel, die die Namen der nach Gurs und später nach Auschwitz gebrachten Opfer nennt, habe ich mir erlaubt den Gottesdienstbesuchern zuzurufen:“…es geht um Gerechtigkeit…“, ich sagte dieses Wort in der Kirche gleich zwei Mal!

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Herbert H.W. Metzger
Herausgeber
Oktober 2002