2.6.2 1791-1900: die Frankreich- und Bayernzeit in Bezug auf die Mutterstadter Juden

1791-1795
Große Teile der Kurpfalz, genauer die linksrheinisch gelegene Pfalz, also auch Mutterstadt werden de facto per Besetzung durch französische Truppen französisch regiert. Mutterstadt wird bis 1814 Kantonshauptstadt des gleichnamigen Kantons im Departement Mont Tonnère (Donnersberg). Dazu beigetragen haben die guten Verkehrsverbindungen, die in den 1770er Jahren, in der Zeit des fortschrittlich denkenden, aufgeklärten Kurfürsten Karl Theodor geschaffen wurden. Diese gepflasterten, seitlich mit je einem Graben und schattenspendenden Baumreihen versehenen Chausseen, also Fernstraßen, verlaufen von Mannheim nach Neustadt / Paris bzw. von Basel / Speyer nach Worms / Amsterdam. Sie kreuzten sich in Mutterstadt. Siehe auch www.judeninmutterstadt.org 2.4.5

1801
Das seit dem Frieden von Luneville 1801 auch im französischen Mutterstadt im staatsrechtlichen Sinne offiziell geltende liberale französische Recht, -einschließlich der Handelsgesetzgebung, welche die Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, letztlich die bürgerliche Gleichheit beinhalten-, geben dem jüdischen Bevölkerungsteil die Möglichkeit, sich wirtschaftlich entsprechend zu entwickeln. Die Gleichstellungsdekrete von 1791 der französischen Revolutionsregierung machen de facto u.a. die Mutterstadter Juden zu gleichberechtigten Bürgern. Dieser im rechtsrheinischen Deutschland fehlende Rechtsstatus zieht deshalb viele rechtsrheinisch wohnende Juden zwecks Ansiedlung in die linksrheinischen -französischen- Gebiete. In dieser Zeit werden weitere jüdische Familien hier ansässig: u.a. Eppler, Marx, Ehrlich, Maas, Landmann und Koch. Wie alle "linksrheinischen Deutsche", jetzt französische Staatsbürger, legen auch Juden einen Eid auf die französische Verfassung ab.

09.02.1807
Eine 71-köpfige Versammlung jüdischer Notabeln in Paris, auch aus dem linksrheinischen, unter französischer Herrschaft stehenden Deutschland, der "Große Sanhedrin" beschließt die Trennung von Staat und Religion als Voraussetzung, an der beginnenden Assimilation der Juden mit den Nichtjuden teilnehmen zu können. Bezüglich der christlichen Kirchen war die Trennung vom Staat, 1789 beginnend, bereits abgeschlossen. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.4.5

Die seit 1792 u.a. in Mutterstadt geltende Handels- und Niederlassungsfreiheit für Juden wird durch Napoleon I. für zehn Jahre ausgesetzt und zwar bei Beibehaltung ihrer staatsbürgerlichen Rechte. Unter der ab 1816 einsetzenden bayerischen Regierung wird diese "Aussetzung" um mehrere Jahrzehnte bis 1867 verlängert, aber nur bedingt durchgesetzt. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.4.5

1808
Durch napoleonische Dekrete entstehen ein jüdischer Zentralverband sowie Regionalvorstandschaften für das Departement Mont Tonnerre (Donnersberg), zu dem auch Mutterstadt gehört. Das bedeutet das Ende der religiösen autonomen Selbständigkeit örtlicher jüdischer Kultusgemeinden.

17.03.1808
Ein als "infam" empfundenes Dekret schränkt die Gewerbefreiheit der Juden wieder ein. Diese müssen sich jährlich vom Gemeinderat ihres Wohnortes sowie der israelitischen Kultusgemeinde ein Leumundszeugnis ausstellen lassen. Weiterhin wird per napoleonischem Dekret u.a. auch für Mutterstadt festgelegt, dass "… Wucher und unerlaubter Handel der Juden…" verboten sind. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.4.5

20.07.1808
Napoleon, "Kaiser der Franken, König der Italiener und Schutzherr des Rheinischen Bundes" dekretiert, dass "… diejenigen Untertanen unseres Reiches, die den hebräischen Gottesdienst befolgen und die bisher keine fixen Geschlechts- und Vornamen hatten, sollen verpflichtet sein, solche binnen 3 Monate nach Publizierung unseres gegenwärtigen Dekrets anzunehmen und sie vor dem Beamten des Zivilstandes der Gemeinde wo sie ansässig sind zu erklären…". Das heißt: Alle Juden auch in Mutterstadt nehmen Familiennamen an.

18.06.1814
Dank dem Untergang der französischen Herrschaft in der ehemaligen linksrheinischen Kurpfalz übernehmen Österreich und Bayern bis zum 14.04.1816 gemeinsam die Macht in der Pfalz.

01.03.1815
Gemäß Verordnung der "Kaiserlich-österreichischen und Königlich-bayrischen, Gemeinschaftlichen Landes-Administrations-Comission" müssen alle Handel treibende Juden so genannte "Handelspatentscheine" und "Moralitätszeugnisse" vorlegen, ausgestellt von den örtlichen Gemeinderäten, die auch "den Leumund" des antragstellenden Händlers beurteilen. Diese Verordnung, in der Franzosenzeit auch "Decret infâme" genannt, wird 1826 vom bayerischen König Ludwig I. -und nur für die Pfalz, nicht für Altbayern- modifiziert. 1846 werden weitere ergänzende Durchführungsverordnungen erlassen.

15.04.1816
Es entsteht der "Bayrische Rheinkreis" im Königreich Bayern.

1822
Der Fußgönheimer Judenfriedhof wird -zusammen mit den jüdischen Gemeinden in Ruchheim, Schauernheim und Mutterstadt der zentrale Begräbnisplatz für insgesamt 255 Juden, die in diesen Gemeinden wohnen. 64 Juden wohnen in Mutterstadt. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.3.5

1833
Sozialgeschichte in Mannheim: 19,9% aller Geburten christlicher Frauen sind unehelich. Zum gleichen Zeitpunkt liegt die Rate bei jüdischen Frauen bei 1,0%. (Aus: "Minderheiten im städtischen Raum", Seite 183, Thorbecke-Verlag, ISBN 3-7995-0904-6)

1834
Heinrich Heine, der große prophetische Deutsche, der als Jude und Dichter den Holocaust der Jahre 1942 bis 1945 ahnt und um 1834 die immer noch bestehende Ausgrenzung der Juden verarbeitet, sagt: "… lächelt nicht über den Phantasten …" und "… wenn ihr es einst Krachen hört wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst: der "Deutsche Donner" hat endlich sein Ziel erreicht. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die Französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte…"

14.11.1838 11°° Uhr
Einweihung des 1. Sakralbaus, der 1. Synagoge in der heutigen Oggersheimerstr. 24 mit Umzug und Festgottesdienst. Sie wurde erbaut auf dem 1832 von der Familie Dellheim erworben damals schon bebauten Grundstück. Die Feierlichkeiten erfolgen unter Mitwirkung des Ortsvorstandes der jüdischen Gemeinde, des Bezirksrabbiner Aaron Merz, Geistlicher beider Konfessionen, Beamte und Gemeinderäte sowie unter Gesang, Glockengeläute, Musik und großer Anteilnahme der Bevölkerung. Start des Umzuges ist das Wohnhaus des jüdischen Ortsvorstehers in der Oberen Kirchstraße / Ecke Rheingönheimer Straße, gegenüber der katholischen Kirche, also der ehemaligen Dachgeschoss- Betstube = Synagoge der jüdischen Gemeinde vor 1832.

Über dem Synagogeneingang steht der Spruch "Hier die Schwelle des Herrn, nur der Fromme und Gerechte soll sie betreten". Der katholische Pfarrer Dibelius nimmt an den Festlichkeiten teil und hält eine Stegreifrede. Siehe auch www.judeninmutterstadt 3.1.2

1838
Der katholische Pfarrer Johann Dibelius wird von seinem intoleranten Bischöflichen Ordinariat in Speyer mit einem Disziplinarverfahren überzogen, weil er bei der Synagogeneinweihung eine improvisierte Rede hält und die Kirchenglocken läuten lässt. Siehe auch www.judeninmutterstadt 3.1.2

25.05.1845
Per Verordnung der königlich-bayrischen Regierung vom 28.08.1817 wird jüdischen Kindern die Verpflichtung auferlegt, die christliche Grundschule in Mutterstadt zu besuchen. Diese bekommen jedoch dort keinen jüdischen Religionsunterricht. Sie erhalten mit Hilfe der Gemeinde eine eigene jüdische Schule, wahrscheinlich schon zu diesem Zeitpunkt in der Jahnstraße, der heutigen Seniorentagesstätte. Der antragstellende, aus dem auch für Mutterstadt zuständigen Rabbinatsbezirk Bad Dürkheim kommende Rabbiner Aaron Merz erhält von den 14 Gemeinderatsmitgliedern einen Zuschuss von 70 Gulden für die damals 30 israelitischen Schulkinder bzw. für die Anstellung eines jüdischen Lehrers. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.4.5

1848/49
Der Mutterstadter Jude Marx demontiert zusammen mit Dr. Franz Bohlig und anderen Gesinnungsgenossen die Bahngleise im heutigen Limburgerhof, um den aufständischen Pfälzern einen Vorsprung vor den Preußischen Truppen zu verschaffen, die die demokratisch gesinnten Pfälzer verfolgen.

29.06.1851
Gemäß dem bayerischen Gesetz "Die bürgerlichen Rechte der israelitischen Glaubensgenossen betreffend" werden ab diesem Zeitpunkt keine "Moralitätszeugnisse" mehr von den Händlern verlangt.

um 1855
Der liberalreformierte jüdische Ritus, auch in Mutterstadt praktiziert, bringt Änderungen mit sich. Hebräisch als Gebetssprache wird von der deutschen Sprache abgelöst, deutsch geschriebene Gebetsbücher werden eingeführt und die Predigten werden ebenfalls in deutscher Sprache gehalten. Die Einführung einer Amtstracht für Rabbiner und Kantoren, angelehnt an die Amtstracht evangelischer Pastoren, wird auch in der Mutterstadter Synagoge umgesetzt. Juden empfinden sich als bayerische, ab der Reichsgründung 1871 als deutsche Staatsbürger jüdischer Konfession.

1867
Als Folge der bayerischen Emanzipationsgesetze erhalten Juden die uneingeschränkte Handels- und Niederlassungsfreiheit sowie die Wählbarkeit, also die Möglichkeit u.a. in den Mutterstadter Gemeinderat gewählt zu werden.

1868
Ein Teil, genauer der Bereich der Frauenempore, der 1838 erbauten Synagoge stürzt ein. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.4.6

1870-71
Abraham und Leopold Löb nehmen als Soldaten am Deutsch-Französischen Krieg teil. Dieser Fakt wird in der 1967 erschienenen Ortschronik "Mutterstadt in Vergangenheit und Gegenwart" auf Seite 290 beschrieben. Auf den Namenstafeln am Kriegerdenkmal des Alpen Friedhofes fehlen folgende jüdische Soldatennamen: Leopold Dellheim, Johannes Koch, Simon Marx. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.4.6

April 1871
Die königlich-bayrische Baubehörde in Speyer, der Bezirksbauschaffner Mert, stellt zwecks Reparatur und Wiederaufbau der 1868 teileingestürzten Synagoge, erbaut 1838, einen "Kosten-Anschlag" von 1400 Gulden auf. Dieser und die in Folge der Arbeiten erstellten Handwerkerrechnungen lassen es zu, Baudetails nicht nur für die 1838er Synagoge zu ermitteln, sondern auch für die 1904/05 erstellte 2. Synagoge, die ein Anbau an die 1838er Synagoge ist. Die gesamten diesbezüglichen Bauakten sind im Landesarchiv Speyer unter 445 Nr. 4197 (32 Seiten) archiviert. Leopold Löb ist zu diesem Zeitpunkt Synagogenvorstand. Die politische Gemeinde gibt einen Bauzuschuss von 400 Gulden. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.4.6

01.05.1871
Leopold Löb, Synagogenvorstand und Teilnehmer am Krieg gegen Frankreich 1870-71, ist Gemeinderat und unterschreibt ein Ratsprotokoll vom 01.05.1871. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.4.6

Die Israelitische Kultusgemeinde kauft das straßenseitig gelegene Teileigentum von Simon Dellheim und seinen Kindern in der Oggersheimer Straße 24, dem Synagogengrundstück für 600 Mark hinzu, genauer das "Wohnhaus und Hof samt Wegerecht" mit der Plannummer 306. Dies wird eingetragen in das Grundbuch, Seite 503, aus dem Jahr 1878. Das 1877 gekaufte Teileigentum an dem Anwesen wird 1904 abgerissen und durch den Synagogenergänzungsbau ersetzt. Esther Loeb, Großmutter von Ernest Loeb, New York, stiftet den Kaufpreis. Esther Loeb ist laut Schreiben ihres Enkels vom 16.12.1987 auch diejenige Person, die sowohl vom katholischen wie protestantischen Pfarrer mit: "Esther, ich brauche Hilfe" angesprochen wurde, wenn finanzielle Probleme bedürftiger Mutterstadter, Protestanten und Katholiken, unlösbar wurden.

ab 1879
In der akademischen Jugend Deutschlands macht sich ein spürbarer Antisemitismus breit.

1881
Staatlich geförderte Pogrome gegen Juden in Russland. Die daraufhin erfolgende Auswanderungen rufen weltweit jüdische Hilfe hervor. U.a. wird in diesem Zusammenhang der renommierte Hilfsfond "American Jewish Joint Distribution Comitee Inc.", New York, gegründet. Einer ihrer Präsidenten, dies von 1984-88, ist der in Mutterstadt geborene Heinz Eppler. Siehe auch www.judeninmutterstadt.de 5.1.1 u. 4.1.6

1884
Der einzige, mit dem akademischen Titel "Professor" ausgestattete jüdische Bürger, Lazarus Koch, zahlt 6,70 Mark Beitrag für das Gehalt des Rabbiners. Er ist auf dem Mutterstadter Friedhof beerdigt.

1889
Der jüdische Friedhof am heutigen Pfalzring wird eingerichtet. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.3.5

1897
Assimilation: Die erste und einzige bekannte Mischehe in Mutterstadt im 19. Jh. wird geschlossen. Der Christ Peter Metzger und die Jüdin Frieda Dellheim, beide aus der Rheingönheimer Straße, heiraten.

1897
Theodor Herzl, ein Wiener jüdischer Journalist, gründet in Basel den "Zionistischen Weltkongreß" mit dem Hauptziel, einen jüdischen Staat im heutigen Israel / Palästina zu gründen. Die Diskussion hierüber beschäftigt auch die Mutterstadter Juden tief, wird aber vollkommen abgelehnt, da man sich als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens fühlt, in Deutschland bleiben möchte und die Früchte der schon seit 150 Jahren andauernden Emanzipation und Assimilation nicht aufgeben will. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.4.6

1898
Kaiser Wilhelm II besucht Jerusalem und trifft am 28.10.1898 in Mikwe Israel Theodor Herzl.

08.06.1891
Der Gemeinderat vergibt an die Firma Heinrich und Valentin Metzger den Auftrag zur Herstellung einer Umfassungsmauer und eines "schmiedeeisernen Thores" am neu eingeweihten jüdischen Friedhof der Israeliten, jetzt neben dem Neuen Friedhof am Pfalzring gelegen. Auftragswert: 755 Mark. Die Mauer war mit Falzziegeln abgedeckt, das Tor 2.50m breit und die Torsäulen mit "Kapitälchen" versehen. Siehe auch www.judeninmutterstadt 2.3.5

Ende 1900
Südwestdeutsches Judentum: Die nur noch ihre religiösen Hauptfeste in der Synagoge feiernden Juden verweltlichen zusehends, feiern den Sabbat, beachten aber die vielen jüdischen Speisegesetze nicht mehr in einem absoluten Sinne. Beispielsweise findet der Besuch der Mikwe, dem rituellen Bad im Nebengebäude der Mutterstadter Synagoge, nicht mehr statt. Zeitungslektüre ist in dieser Zeit die "Allgemeine Zeitung des Judentums", herausgegeben bis 1922, oder "Israeliten", eine Zeitschrift, die von 1860 bis 1938 erschienen ist.

Autor: Herbert H.W. Metzger, Jahrgang 1940, unternehmerisch tätig, amtierte v. 1980-1990 als Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt. Im Rahmen von 2 Bürgeraktionen und dieser Publikation "Die ehemalige jüdische Gemeinde und ihre Nachkommen" engagiert er sich, das Unrecht, begangen an der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Mutterstadt und der Pfalz, aufzuarbeiten und vor allem die Jugend über das Schicksal des Pfälzer und Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteils zu informieren.