Das Foto zeigt das Ehepaar Lotti und Ernest Loeb Ende der 1980er Jahre. Die Loebs lebten zu diesem Zeitpunkt in New York, USA, in Manhattan, Nähe Central Park, in einer Eigentumswohnung. Ernest, zuletzt als Manager tätig, und Lotti seine aus Deutschland stammende Frau, verbrachten dort ihren Lebensabend. Lediglich in den Wintermonaten übersiedelten sie nach Florida, wo Ernests Witwe, heute 2002 endgültig Wohnung genommen hat. [000]
Das Foto zeigt die Synagoge von der Oggersheimer Straße kommend Richtung Historisches Rathaus. In dieser "Mutterstadter Welt" lebten jüdische und nichtjüdische Bürger friedlich zusammen. Ernest gibt dies in seinem Brief dadurch zum Ausdruck, dass er, bezogen auf die NS-Umtriebe am 09./10. November 1938 sagte "…lass sie kommen, ich habe ein gutes, reines Gewissen…" [000]
Ernest Loeb, geb. am 21.05.1908 in Mutterstadt
Im Mutterstadter Rathaus, dem Wachtzimmer im Erdgeschoss, wurden Mutterstadter männliche Juden verhört, verhaftet und nach Ludwigshafen, später nach Frankenthal in das Gefängnis gebracht. Bemerkenswert: Gemeindesekretär Reber, die beiden Polizisten Becker und Binder, der Busunternehmer Hörtel und andere waren mit diesen Maßnahmen gegen den jüdische Bevölkerungsteil nur bedingt, auch als Amtspersonen, einverstanden. Ernest Loeb kam von Frankenthal aus über Ludwigshafen in das KZ Dachau. [000]
Am 10.11.1938 geschah das Unfassbare: Die verbliebenen jüdischen Bürger, Frauen, Kinder, ältere Männer wurden einige Stunden auf das Rathaus gebracht und festgehalten, während in der gleichen Zeit ihre Wohnungen geplündert, Möbel und Einrichtungsgegenstände zerschlagen wurden. Ernest Loeb wird exakt diese Handlungen niemals vergessen, schreibt er in seinem Brief. [000]
Lottie Loeb, Ehefrau von Ernest Loeb [000]
Vorbemerkung: Der Historische Verein der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt, hatte Anfang der 1980er Jahre bereits vorhandene Kontakte des in New York, USA wohnenden Ernest Loeb u.a. zu der Gemeindeverwaltung Mutterstadt und zu in seinem Geburtsort wohnenden Mutterstadter Familien aufgegriffen und intensiviert. Ernest Loeb, aus der Speyerer Str. 1 stammend, war zunächst als US-Soldat unmittelbar nach 1945 in Mutterstadt gewesen. Ende der 1980er Jahre waren jedoch seine Reisemöglichkeiten aus gesundheitlichen Gründen beschränkt, weshalb er sich einer intensiven Korrespondenz u.a. mit dem Historischen Verein hingab.
Emotional auf das Engste mit seiner Heimat verbunden, wurde er 1988 offiziell von der Gemeindeverwaltung nach Mutterstadt eingeladen.
Grund war der 50. Gedenktag der Niederbrennung der Synagoge 1938. Ernest, 1993 verstorben, hinterließ uns anlässlich dieses Gedenktages einen Brief, der an den Gedenkfeierlichkeiten im Neuen Rathausfoyer verlesen wurde. Lassen wir Ernest zu Wort kommen:
Meine Gedanken zum 50. Jahrestag des 9. November 1938
Ich bin 80 Jahre alt, geboren am 21. Mai 1908 in Mutterstadt. Ich bin der letzte Lebende der in Mutterstadt geborenen jüdischen Männer, die am 9. November 1938 Erwachsene waren. Es freute mich sehr, die Einladung zu erhalten an dem Gedenktag des 9. November 1938 teilzunehmen. Infolge meines gegenwärtigen Gesundheitszustandes ist es mir zu meinem großen Bedauern nicht möglich, bei Ihnen zu sein. Deshalb will ich Ihnen meine Gedanken hiermit schriftlich übermitteln.
Bis 1933, als die Naziregierung zur Macht kam, lebten wir Juden in Mutterstadt als angesehene, gute Bürger. Zu allen Zeiten waren wir Teil der Gesamtbevölkerung, nahmen Teil am gesellschaftlichen, kulturellen, sportlichen und wirtschaftlichen Leben. Ein Unterschied bestand nur darin, dass die beiden christlichen Konfessionen in ihre Kirchen und die Juden in ihre Synagoge gingen.
Plötzlich trat 1933 eine Änderung ein. Mit wenigen Ausnahmen hatte man keine guten Nachbarn und Freunde mehr, weil man Jude war. Ich bin überzeugt, dass es viele gab, deren Verhalten nicht auf feindliche Gefühle zurückzuführen war; sie beugten sich dem immer stärker werdenden Terror der damaligen Regierung in Deutschland.
Der Beginn der Verfolgungen war im März und April 1933. An dem so genannten Boykott-Tag, 1. April 1933, standen S. A. Männer vor den jüdischen Häusern und Geschäften. Von 1933 an mussten wir unsagbares Leid und Unrecht erfahren. Es würde zu weit gehen, hier an dieser Stelle Einzelheiten aufzuzählen. Die Verfolgungen wurden immer schwerer und führten zu dem angestifteten Niederbrennen der Synagoge, der Inhaftierung der Männer, allen verbrecherischen Taten des 9. November 1938 und der Deportation aller noch in Mutterstadt lebenden Juden im Oktober 1940. Viele der Deportierten wurden in Vernichtungslagern grausam ermordet.
Hier will ich nur der Ereignisse des Tages, dessen 50. Jahrestag wir in diesen Tagen begehen, gedenken. Herr Pfarrer Zumstein hat in seinem Vortrag am 9. November 1987 die Lage trefflich zum Ausdruck gebracht.
Ich will meine persönlichen Erfahrungen anfügen. Am frühen Morgen des 10. November 1938 – der Tag ist unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingeprägt – hörte ich meinen Onkel Ferdinand Loeb, der im gleichen Haus wie meine Eltern und ich wohnte, im Hof rufen: "Die Synagoge brennt". Ich wusste sofort, dass es kein zufälliger Brand war, sondern Brandstiftung. Am Abend vorher war an der Pforte (Port) an dem Eckhaus zum Eingang zur Speyerer Straße ein Extrablatt angeschlagen, dass in Kurhessen Synagogen von der Volkswut (wie sie es nannten) angezündet wurden. Einige Minuten später kam ein Freund meines Vater, Isidor Eppler, mit der Brandbotschaft. Der Letztere war seit der Auswanderung seines Sohnes Jakob und Familie fast täglich in unserem Haus. Wir alle hatten die Sorgen gemeinsam und drückten unsere Hoffnungen und Befürchtungen gegenseitig aus.
Meine Kusine Liese Loeb, Ferdinands Tochter, war am Morgen, wie üblich nach Ludwigshafen an ihren Arbeitsplatz gefahren. Nach kurzer Zeit kam sie per Taxi zurück, nachdem sie in Ludwigshafen sah, was vorging. Liese sagte mir: "Gehe aus dem Haus, verberge Dich, sie werden kommen und Dich holen". Kaum war mir Zeit, ihr zu erwidern "Lass sie kommen, ich habe ein gutes, reines Gewissen," da kam schon ein Gendarmerie Wachtmeister und sagte "Ernest Loeb geboren 21.05.08". Sie müssen mit mir kommen. Meine damals 69-jährige Mutter fiel in Ohnmacht. Ich warf schnell einige Unterwäsche in meine Aktenmappe. Etwas Geld hatte ich in meiner Tasche. Dann ging ich hocherhobenen Hauptes und stolz (Die Leute, die schuld waren an meiner Verhaftung und mir auf dem Weg begegneten, sollten sich schämen, waren meine Gedanken).
Ich wurde auf das Rathaus gebracht. Dort fand ich im Polizeizimmer bereits einige meiner Glaubensgenossen, andere kamen nach mir. Wir waren bewacht von dem Polizeikommissar Wilhelm Becker, der uns äußerst höflich behandelte und dem man anmerkte, dass er gegen seinen eigenen Willen seine Pflicht als Beamter tun musste. Vor dem Rathaus sammelte sich eine Menge an. Wir waren bzw. sollten mit dem nächsten Lokalzug nach Ludwigshafen gebracht werden.
Mein Vetter Jakob Loeb, geboren 1893, Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, war der letzte Vorstand der jüdischen Gemeinde. Er war auch bei uns. Er und ich fragten Herrn Becker, ob wir anstatt per Bahn auf unsere eigenen Kosten mit dem Fritz Hörtel´schen Autobus transportiert werden könnten. Herr Becker sagte, er kann nicht darüber entscheiden, will aber den Bürgermeister (damals Backe?) fragen. Mit Zustimmung des Bürgermeisters bestellte Herr Becker Fritz Hörtel und wir wurden unter Aufsicht des Polizeibeamten Alwin Reichert mit dem Bus nach Ludwigshafen gebracht. Dort war aber das Gefängnis bereits überfüllt. Die Reise ging nach Frankenthal weiter. Wir wollten unser Geld für spätere Notfälle aufheben und baten deshalb Fritz Hörtel, mit dem wir immer angenehme Geschäftsbedingungen hatten, sich das Geld von Karola Dellheim (Jakobs Schwester) geben zu lassen. Er war damit einverstanden, doch hatte er niemals Karola um Geld gefragt, was ich ihm als Ehre anrechne.
Der Gefängnisdirektor in Frankenthal behandelte uns auch mit dem Wissen, dass er kein Verbrecher, sondern angesehene, gute Bürger aufnehmen musste. Manche von uns waren in Einzelzellen, manche in Gemeinschaftszellen. Während des Tages waren unsere Zelltüren offen und wir konnten uns gegenseitig besuchen. Ich war in einer Einzelzelle, in der ich in der Nacht vom 10. zum 11. November zuversichtlich über meine Lage nachdachte, was schwer aber nicht unmöglich war. Am Morgen des elften konnten Verwandte, Frauen, die mit Fahrrädern nach Frankenthal kamen, einige Lebensmittel zu uns bringen, durften uns aber nicht besuchen.
Am Abend des 11. November wurden wir nach Ludwigshafen transportiert und von dort aus nach dem KZ Dachau. Das ist eine besondere Geschichte, die ich hier nicht zur Sprache bringen will. Nach ungefähr drei bis vier Wochen wurden die Frontkämpfer aus dem KZ entlassen. Ich wurde am 21. Dezember 1938 entlassen, weil mein in Paris lebender Bruder Jakob Loeb, geb. 12. Januar 1900 in Mutterstadt, Papiere für mich beschaffen konnte, die der Gestapo genügten, mich frei zu lassen.
Am Nachmittag des 10. November wurden die nicht in Haft genommenen Männer über 60, Frauen und Kinder unter 16, von der Polizei aus den Häusern geholt. Sie wurden auf das Rathaus geführt und dort für zwei bis drei Stunden festgehalten.
Während die Leute auf dem Rathaus festgehalten wurden, geschah das Unfassbare: Die jüdischen Wohnungen wurden geplündert, Möbelstücke zerschlagen sowie Bilder, Spiegel, Lampen und elektrische Birnen. In manchen Häusern, nicht bei uns, wurden auch Betten aufgeschnitten, so dass die Federn herumflogen. (Es ist mir bewusst, dass durch Kriegshandlungen auch solche Schäden verursacht werden können. Es ist aber ein riesengroßer Unterschied, ob es sich um Kriegsschaden handelt oder ob die Zerstörung auf behördliche Anordnung gegen unbescholtene Bürger des eigenen Landes vorgenommen wird.)
Nicht – absolut nicht – habe ich das in dem damaligen Deutschland meinen Glaubensgenossen, meiner Familie und mir angetane Unrecht vergessen. Aber ich persönlich will die mir von der heutigen, schuldlosen Generation entgegengestreckte Hand ergreifen. Ich tue es mit Freuden in Anerkennung der Bestrebungen der jüngeren Generation und dem Wissen aus meiner eigenen Erfahrung, dass es in Mutterstadt auch in der Nazizeit Leute gab, die ihre Freundschaft und Wohlwollen, wenn auch nur heimlich, bezeigten. Auch unter den örtlichen Behörden waren Beamte, die das Schicksal der Juden im Rahmen ihrer Möglichkeiten erleichtern halfen. In erster Linie gedenke ich dabei der Polizeibeamten Wilhelm Becker, Wilhelm Binder und des Gemeindesekretärs Wilhelm Reber.
Im Gegensatz zu vielen anderen Orten der Pfalz war die Bevölkerung in Mutterstadt etwas mehr neutral in ihrer Einstellung gegenüber der jüdischen Gemeinde in der Nazizeit. In Anbetracht unserer guten Freunde dort stimmten meine Brüder und ich überein, dass unsere alten Eltern ihrem Wunsch gemäß nach dem Ende des Krieges nach Mutterstadt zurückkehrten, sobald eine Wohnung in unserem Haus, Speyerer Str. 1, für sie frei gemacht werden konnte. Unser Haus- und Grundbesitz war nie verkauft, auch nicht unter Zwang. Meine Eltern verbrachten nach ihrer Rückkehr aus verstecktem Leben in Südfrankreich ihren Lebensabend in freundlichen Beziehungen in Mutterstadt.
Hiermit schließe ich meine Betrachtungen zum 9. November 1938 und rufe den jüngeren Generationen zu VERGESST NIE die Ereignisse jenes Tages.
New York, N. Y., USA, 27. Oktober 1988.
Ernest Loeb
Autor: Ernest Loeb, Jahrgang 1908, gebürtiger Mutterstadter jüdischer Herkunft ist seiner Heimatgemeinde aus einer umfangreichen Korrespondenz bestens bekannt. Ernest, 1992 verstorben, lebte mit seiner Frau Lottie in Manhattan, New York, USA, nahe dem Central Park. Der Autor repräsentierte wie kein anderer den gutbürgerlichen national denkenden vollkommen assimilierten Deutschen jüdischer Herkunft. Er blieb Mutterstadt bis zu seinem Tode auf das Engste verbunden.
Fotos und Sonstiges, sowie die dazugehörenden Texte, die Autoren-Kurzbiographie, sowie die Multiple-Choice-Fragen wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.
Quelle: Siehe Quellennachweis Titel 9 (Nr. 000)
Für Schulen: Multiple-Choice-Fragen zu dem oben stehenden Artikel
- Mehrere Antworten können richtig sein -
Was empfand Ernest Loeb während der Synagogenbrandstiftung und dem Tag danach als das schrecklichste Ereignis?
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die Verhaftung durch Ortspolizisten |
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das Gefängnis in Frankenthal |
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die Plünderung jüdischer Wohnungen durch Mutterstadter |
Wie verhielten sich die Ortspolizisten Binder und Becker sowie der Gemeindesekretär Reber?
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sie erleichterten den Opfern ihr Schicksal, wo es ging |
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neutral, machten Dienst nach Vorschrift |
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schlecht, waren fanatisierte Nationalsozialisten |
Der Brief vom 27.10.1988 von Ernest Loeb endet mit einer Mahnung an die jüngere Generation. Wie lautet diese?
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vergesst nie diese Ereignisse |
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ich verzeihe den Mutterstadtern alles |
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Nationalsozialismus ist eine schlechte Ideologie |