2.4.0 Vorwort zur Geschichtsdokumentation über die ehemalige Mutterstadter jüdische Gemeinde sowie die Synagogenerweiterung von 1904/05.








Der 100. Jahrestag der Synagogenfertigstellung im Januar 1905 und die vorgezogene Synagogeneinweihung 1904.

Die nachstehenden 24 Beiträge zur geschichtlichen Dokumentation der ehemaligen jüdischen Gemeinde in Mutterstadt sind ein Teil des 2002 erschienen Internet-Auftritts www.judeninmutterstadt.org und unter den Ordnungsnummern 2.4.0 bis 2.8.0 aufrufbar.

Der Internet-Auftritt selbst bezieht sich schwerpunktmäßig auf Mutterstadt, bindet aber auch das Schicksal jüdischer Menschen aus dem Saargebiet, der Pfalz und aus Baden mit ein. 2005 sind unter dem Titel "Die ehemalige Mutterstadter jüdische Gemeinde, die Gurs-Deportation 1940 und Auschwitz" 32 Kurzgeschichten, von jüdischen und nichtjüdischen, aus Mutterstadt stammenden oder mit Mutterstadt eng verbundenen Autoren veröffentlicht, insgesamt ca. 275 DIN-A 4 Seiten.

U.a. wird über das Geschick der 52 jüdischen Mitbürger geschrieben, die sich am 22.10.1942 hier in Mutterstadt aufhielten und an diesem Tag zusammen mit ca. 6500 jüdischen Menschen aus dem Saargebiet, der Pfalz und aus Baden nach Gurs in Südwest-Frankreich deportiert wurden. Zu den 52 Mutterstadter jüdischen Bürgern muss man noch weitere 23 Personen zählen, die mit Mutterstadt eng verbunden waren, sich aber am 22.10.1940 anderweitig aufhielten. Von den also insgesamt 75 deportierten Personen sind 57 in Gurs, Minsk, Buchenwald oder Ausschwitz gestorben, getötet worden oder verschollen. 18 Personen haben überlebt.

Das insgesamt ca. 450 DIN-A4 seitige Internet-Projekt ist gut geplant. So wurden u. a. Institutionen und politisch führende Persönlichkeiten angeschrieben, die auch im Sinne der Unterstützung des Projektes geantwortet haben.

Insbesondere ist auf ein Schreiben des Holocaust Memorial Museum in Washington zu verweisen, einer der weltweit wichtigsten zentralen Dokumentationsstätten nationalsozialistischer Gewaltverbrechen überhaupt. Das Museum vermeidet normalerweise derartige Schreiben. Die Antwort haben wir dem Mutterstadter Heinz Eppler zu verdanken, der aus einer seit Anfang des 19. Jh. bis 1940 hier lebenden, im ganzen südwestdeutschen Raum bekannten jüdischen Viehhändler-Familie stammt.

Dort, in Washington, ist bereits die Geschichte der Mutterstadter Juden und die Gedenken- und Versöhnungsaktivitäten des Ortes, soweit diese bis 2003 stattgefunden haben, einschließlich der ökumenischen Gedenkarbeit der protestantischen und katholischen Kirche, dokumentiert und archiviert.

Diese Geschichtsdokumentation anlässlich des Gedenkens an die Synagogenfertigstellung 1905 schließt die im Amtsblatt vom 10.10.2002 veröffentlichte offizielle Entschuldigung des Mutterstadter Bürgermeisters Ewald Ledig bei den jüdischen Opfern des nationalsozialistischen Regimes (1933 – 1945) ein.

Eine Entschuldigung, die sich neben der staatlich sanktionierten, industriell betriebenen Tötung dieser Menschen auch bezieht auf die zwischen 1933-1945 in Mutterstadt praktizierte Demütigung dieser Bürger.

Sie bezieht sich aber auch darauf, dass man Mutterstadter u.a. in Auschwitz 1942 – 43 und auf den Transporten dorthin auf die Stufe von Tieren reduzierte, bevor man ihnen das Leben nahm.

Die Entschuldigung soll dem Totschweigen der Existenz jüdischer Bürger in den Ortschroniken von Mutterstadt entgegenwirken. In der "Geschichte des Dorfes Mutterstadt" von 1938 und in der Ortschronik "Mutterstadt in Vergangenheit und Gegenwart" von 1967 wird die Verfolgung der Juden verharmlost und der Tod von 57 Mutterstadtern ignoriert. Beide Chroniken stammen vom gleichen Autor.

Die in den Texten auftauchenden Ordnungsnummern, bezogen auf den Internet-Auftritt, sind dort, zwecks Erreichen detaillierterer Informationen, aufrufbar. Ein Schwerpunkt dieser Dokumentation liegt jedoch darin, die Baugeschichte der seit dem 18. Jh. bis 1938 bestehenden Betstuben und Synagogen, vor allem der 1904/05 fertiggestellten Synagoge in Mutterstadt, nachzuzeichnen.

Dass dabei eine von Mutterstadt des Jahres 2005 ausgehende, bis zu dem späteren römischen Kaiser Gajus Julius Cäsar und die von ihm bei Mülhausen/Elsaß, 58 vor Chr. geschlagene Schlacht im Gallischen Krieg zurückreichende Chronologie im Zusammenhang mit jüdischen Menschen erarbeitet wurde, hat Gründe. Es soll vor allem Schülerinnen und Schülern ermöglichen, geschichtliche Zusammenhänge leichter herstellen zu können.

Darüber hinaus noch ein weiterer Schritt: Fügt man die Geschichtsdaten, den historischen Hintergrund hinzu, erarbeitet im Zusammenhang mit den sieben Bildmotiven auf den Mutterstadter Synagogenfenstern, diese beginnend in der Zeit des Patriarchen Abraham um 1850 vor Christus und endend mit der Eroberung Jerusalems durch Cäsars großen Gegenspieler und Gründer der römischen Provinz Palästina, Pompejus, 63 vor Chr., werden 3850 Jahre hebräisch-jüdischer Geschichte abgedeckt. Die durchgängig geschriebene Geschichte dieser 3850 Jahre ist letztlich immer in irgendeiner Weise mit jüdischen Menschen aus Mutterstadt verbunden – diese stellvertretend für das südwestdeutsche Landjudentum. Auf den 24 Informationstafeln sind diese geschichts bezogenen Textpassagen, zwecks besserer Lesbarkeit, grafisch in immer der gleichen Farbe hinterlegt.

Die Baudetails der Synagoge von 1904/05, insbesondere die figürliche Darstellung von Menschen auf den Synagogenfenstern sind eine Einmaligkeit in der Synagogenbaugeschichte generell.

Denn gemäß dem Jahwe-Glauben widerspricht diese Tatsache dem religiös begründeten Bilderverbot in Synagogen.

Die entscheidenden Baudetails wären ohne die Mitwirkung von Werner Dellheim, ein Mutterstadter, Jahrgang 1924, aus der Speyerer Straße stammend, heute ein erfolgreicher und angesehener Vollblutpferdezüchter in Florida, USA, unmöglich gewesen. Werner, der 2004 80-jährige, mit einem phänomenalen Gedächtnis ausgestattet, lieferte nahezu alle Angaben bezüglich Baudetails, u.a. des Synagogeninnern. Beispielsweise griff er höchstpersönlich zum Zeichenstift und skizzierte, relativ professionell, oben genannte sieben Bildmotive der Synagogenfenster auf ein Blatt Papier.

In einem etwas bescheideneren Umfang stellten bereits 1988 Ernest Loeb, New York / USA, eine in Gedanken mit Mutterstadt auf das Engste verbundene Persönlichkeit, und Fred Dellheim, Berlin 2002, ihre Beiträge zur Synagogenrekonstruktion zur Verfügung.

Fred, ein engagierter Kämpfer gegen Rassismus und Nationalsozialismus, ist den Mutterstadtern bekannt von einem in der Integrierten Gesamtschule, IGS, 2002, überzeugend gehaltenen Vortrag zum Thema "Juden in Mutterstadt in der nationalsozialistischen Zeit".

Großen Dank muss dem Mutterstadter Künstler Michael Kunz, in diesem Falle ein "Lokalpatriot", gesagt werden, der in Abstimmung -via Internet-Bildübertragung und Telefon- mit Werner Dellheim u.a. die Bildmotive der Synagogenfenster -ein zentrales Element der Synagogenrekonstruktion- künstlerisch nachempfunden hat.

Dies nach dem Motto und entgegen den Vorstellungen nationalsozialistisch denkender Menschen: "Wir geben den Opfern wieder einen Namen, ein Gesicht, eine Geschichte".

Mit den nunmehr vorliegenden Baudetailunterlagen und sonstigen erarbeiteten Informationen sind 2005 die Grundlagen geschaffen, per Computeranimation eine virtuelle Rekonstruktion der Synagoge anzufertigen und einen virtuellen Spaziergang in den Räumlichkeiten selbst vorzunehmen. Dieser virtuelle ins Internet gestellte Film, der auch auf die Versöhnungskultur eingeht, einschließlich den ergänzenden Textbeiträgen des Internet-Auftritts www.judeninmutterstadt.org, wird auf Dauer in einer deutschen und englischen Version aufrufbar sein. Die beiden Versionen sind somit ein informativer, weltweit zugänglicher, vorbildlicher Beitrag über die Geschichte einer typischen südwestdeutschen jüdischen Landgemeinde, der aber auch Auskunft über das moderne Mutterstadt gibt. Der Internet-Auftritt wird weiterhin auch ein Beitrag im Sinne einer Argumentationshilfe für Schülerinnen und Schüler sein, bezogen auf den immer noch grassierenden Antisemitismus anfangs des 21. Jahrhunderts.

Kurz zurück zu der englischen Übersetzung der Internetpräsentation: Hier wird der aus Mutterstadt stammende, in Washington D.C / Bethesda, Maryland, USA, wohnende, u.a. für die amerikanische Regierung als Übersetzer und Dolmetscher tätige, mit allen Mutterstadter Details, auch was die jüdische Religion betrifft, bestens vertraute Günter Widemann aktiv. Er rechnet es sich als Ehre an, diesen Beitrag zu leisten.

Also: Das Bemühen in dieser Dokumentation ist erkennbar, das Schicksal der ehemaligen jüdischen Gemeinde Mutterstadt in nüchternen Dokumentationen, in informativen Sätzen und Zahlen zu fassen, insbesondere auch, was die nationalsozialistische Zeit 1933 – 45 betrifft.

Niemals sollte man jedoch außer Acht lassen, dass sich dahinter Menschen, Mütter, Väter, Großeltern verbergen, jüdische Familien, die in der nationalsozialistischen Zeit verzweifelt einen Ausweg suchten und die sehr gerne ihren Kindern und Enkelkindern Schutz gegebenen hätten vor einem unmenschlichen Ausgeliefertsein an einen mitleidlosen Staat und dessen Bürgern. Schaden von ihren Familien abzuwenden, ohne dabei auch nur einen Funken Gefühl für Gerechtigkeit bei den meisten nichtjüdischen Mitbürgern feststellen zu können, genau dies war ihnen nicht vergönnt.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zukunftsorientiert mit einem jüdischen Sprichwort an Sie herantreten. Es erklärt den Sinn der Mühen, unseren Mutterstadtern jüdischer Herkunft eine umfangreiche Dokumentation zu widmen: "Vergessen wollen verlängert das Exil (= das Unrecht. Red.). Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnern."

Diese Erinnerungskultur setzte ab 1980 in Mutterstadt ein, getragen vom Historischen Verein der Pfalz e.V. Ortsgruppe Mutterstadt, der Protestantischen Kirchengemeinde und der Katholischen Pfarrgemeinde. Auch bildeten sich Bürgerinitiativen zu Gunsten der Gurs-Deportationsopfer 1940 dahingehend, den nationalsozialistischen Opfern eine Namensgedenktafel im Ehrenhof des Neuen Friedhofes zu setzen. Zu dieser Erinnerungskultur gehört auch diese Geschichtspräsentation 2005, anlässlich der hundertsten Wiederkehr der Synagogenfertigstellung von 1905.

Diese Gedenken- und Versöhnungskultur hat die einzigen noch lebenden in Mutterstadt geborenen jüdischen Zeitzeugen, die unsere Synagoge noch kannten und besuchten, als Ehrengäste unserer Gemeinde, im Rahmen dieser Erinnerungsfeier nach Mutterstadt gebracht: Werner Dellheim und Heinz Eppler. Ihr Kommen ehrt uns sehr.

Autor: Herbert H.W. Metzger, Jahrgang 1940, unternehmerisch tätig, amtierte von 1980-1990 als Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt. Im Rahmen von zwei Bürgeraktionen und dieser Publikation "Die ehemalige jüdische Gemeinde und ihre Nachkommen" engagiert er sich, das Unrecht, begangen an der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Mutterstadt und der Pfalz, aufzuarbeiten und vor allem die Jugend über das Schicksal des Pfälzer und Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteils zu informieren.