Die Klagemauer mit Felsendom in Jerusalem ist eine Stützmauer des herodianischen Tempels und in den Jahren um 15 vor Chr. erbaut. Sie ist seit der Zerstörung des Tempels 70 nach Chr. durch die Römer, heute und in der Zukunft Mittelpunkt religiösen Denkens, insbesondere auch der in der Diaspora lebenden Judenheit. Zerstreut in der ganzen Welt sind Juden erst seit 1948 mit Israel wieder mit einer eigenen Staatlichkeit ausgestattet. Der im Gebet weltweit wiederholte Ausspruch "Nächstes Jahr in Jerusalem" sowie die Ost-Ausrichtung der Synagogen in Richtung Jerusalem sollen für alle Juden identitätstiftend sein. Jerusalem und die Klagemauer stehen dabei im Mittelpunkt religiösen Denkens.
Um in einem überwältigenden, nichtjüdischen Umfeld als Jude nicht unterzugehen, hilft auch die Betonung der Verschiedenheit zu Nichtjuden, dies in jeder Lebensäußerung. Eines von vielen Beispielen ist die Kleidung. Das Foto links zeigt einen, übrigens einer Minderheit angehörenden, orthodoxen Juden in seinem alltäglichen Leben, 2005 mit einem Outfit, wie dieses im 17./18. Jh. in Osteuropa eingeführt wurde. Das rechte Foto zeigt orthodoxe Juden beim Beten in einer orthodoxen Synagoge. Die Kippa auf dem Kopf, den Gebetsschal Thallith mit "Schaufäden", Zizit genannt, umgelegt sowie die am Kopf und am Arm befestigten Gebetskapseln, Teffilin, gefüllt mit Thora-Sprüchen sowie die um den Arm gewickelten Gebetsriemen sind die rituellen Ausstattungen eines orthodoxen Juden beim Gebet.
Das Foto zeigt Paul Spiegel, 2005, Präsident des "Zentralrats der Juden in Deutschland" während eines Gottesdienstes der Glaubensrichtung "moderate Orthodoxie". Sichtbarer Ausdruck des Unterschiedes zum orthodoxen Judentum ist u.a. das Fehlen der Schläfenlocken, sowie das Tragen eines modernen, modischen Anzuges einschließlich Hemd und Krawatte. Zu beachten ist aber auch die prächtige Ausstattung der Thorarolle. Diese wird offensichtlich mit Stolz auf deren Inhalt u.a. die 10 Gebote, als einmalige Norm ethischen Verhaltens, von Paul Spiegel in der Synagoge herumgetragen. Anders ausgedrückt: die Beachtung des in der Thora angesammelten Wissens ist eigentlicher Schutz gegen die Unbillen eines oftmals katastrophal verlaufenden Lebens.
Bilderverbot in Synagogen. War die Mutterstadter Synagoge von 1904 im Vergleich mit einer Großstadtsynagoge bezüglich Bauausführung und Innenraumgestaltung absolut unbedeutend, hatte diese aber allen übrigen Synagogen gegenüber eine Einmaligkeit aufzuweisen. Basierend auf dem Gebot "… du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen…", herrscht das Verbot in Synagogen, Menschen in Gemälden zu zeigen. Wie das Gebot beispielsweise umgangen wurde, zeigt obiges Vogelkopfgemälde aus dem 13. Jahrhundert. In der Szene "Abraham opfert Isaak" werden Menschen durch Vogelköpfe mit Judenhut ersetzt. Mutterstadt durchbricht als Reformgemeinde diese Regel und zeigt auf den Synagogenfenstern sieben Szenen mit
Die wöchentliche Sabbat-Feier . Die ihre rituelle Wichtigkeit begreifende Ehefrau entzündet am Freitagabend unter Segenssprüchen 20 Minuten vor Sonnenuntergang zwei Kerzenleuchter, die "Schabbat-Lichtern". Die damit eingeleitete Sabbat-Feier an einem festlich eingedeckten Tisch, umringt von vornehm gekleideten, eng miteinander kommunizierenden Familienmitgliedern ist eine regelrechte, die Menschen vom Alltagsjoch befreiende Auszeit für Muskeln, Seele und Geist. Der am nächsten Tag folgende, vormittägliche Synagogenbesuch, das koscher gekochte Mittagsmahl mit anschließendem "Schabbat-Schlaf", ein erneuter Synagogenbesuch, zwecks Gesprächen mit Freunden und Rabbinern, ein weiterer Imbiß in der Synagoge und ein letztes abendliches Gebet oder ein religiöser Vortrag runden diesen Festtag der Woche ab. Das zu Hause gesprochene "Hawdala-Gebet" zum Verabschieden des Sabbats und der Begrüßung der neuen Arbeitswoche bringt eine rituell gebrauchte Gewürzbüchse, zum Riechen gedacht, eine geflochtene Kerze in zwei Dochten und ein Glas Wein ins Spiel: Der Mensch soll sich mit all seinen Sinnen freuen, sich der Schönheit des Sabbat-Tages bewusst sein und sich auf die mühsamen kommenden sechs Tage einstellen.
1. Allgemein
Die vor rund 3850 Jahren, also 1850 v.Chr., durch einen Bund mit ihrem Gott EL geprägte Religion der Hebräer, später auch Israeliten und ab ca. 900 vor Chr. nach ihrem damaligen Staat Juda auch Juden genannt, die nur einen, dazu unsichtbaren guten und allumfassenden Gott anbetet, konnte diese herausragende Einmaligkeit gegenüber den sie umgebenden Viel-Götter-Religionen Ägyptens und des Vorderen Orients 500 Jahre lang aufrecht erhalten. Erst mit dem ägyptischen Pharao Echnaton (Amenophis IV) um 1360 vor Chr. sowie mit Moses um 1250 vor Chr., darüber hinaus mit Jesus Christus vor 2000 Jahren und Mohammed um 600 nach Chr. treten weitere Religionsstifter auf, die monotheistische Religionen begründen und fortentwickeln. Jesus und Mohammed tun dies, aufbauend auf den offensichtlich einleuchtenden Grundlagen der von Moses entwickelten Jahwe-Religion. Der einzig die Sonnenscheibe, also keine anderen Götter anbetende Monotheismus des Echnatons wird nach dessen Tod wieder abgeschafft. Das Judentum ist die älteste Religion der Welt, die nur einen Gott verehrt.
Ägypter und die seit Abrahams Zeiten u.a. dort lebenden nomadisierenden Hebräer mit ihrem Monotheismus des Patriarchen Abrahams sind somit die Wiege u.a. unserer abendländischen religiösen Kultur.
2. Wer ist Jude in traditionellem Sinne?
Jude im Sinne von Moses und seiner u.a. durch die zehn Gebote kodifizierte Jahwe-Religion ist nur derjenige, der von einer jüdischen Mutter abstammt, und als Knabe zeitnah, d.h. acht Tage nach der Geburt beschnitten wird. Jude ist auch diejenige Person, die nach dem gültigen Religionsgesetzen der HALACHA zum Judentum übergetreten ist. Eine äußerst schwierige, lang andauernde große Lernbereitschaft sowie Hartnäckigkeit sind erforderlich. Vom Judentum selbst wird dieser Schritt nicht gefördert.
Für die "kinderzentrierte" Frau als Jüdin ist es Aufgabe sicherzustellen, dass ihr Wissen über die rituelle Reinheit in der Ehe auch in Zusammenhang mit der Menstruation angewendet wird. Weiterhin ist die jüdische Frau verpflichtet, das Ritualbad, die Mikwe, aufzusuchen, über die Empfängnisbereitschaft der Frau Bescheid zu wissen und koscher zu kochen, das heißt milchige und fleischige Speisen zu trennen.
Kennen muss die Ehefrau auch die wichtigsten der 613 religiösen Ge- und Verbote der Thora und sonstige Religions- und Ritualhandlungen sowie deren regelmäßige Anwendungen. Dazu gehört es, die wöchentliche Schabbat-Feier rituell feierlich im häuslichen Raum zu gestalten oder beispielsweise ein Stück Brot beim Brotbacken zurückzubehalten und dieses -als Geschenk für Gott- zu verbrennen. Sie muss keine Gebote beachten, die sie wegen der Kindererziehung an feste Zeiten bindet. Für den orthodoxen Juden gilt der rituelle Besuch der Mikwe vor dem Sabbat ebenfalls. Darüber hinaus muss er als Zeichen, dass er den eingangs erwähnten "Bund mit Gott" akzeptiert, beschnitten sein: ein Teil der Vorhaut seines Gliedes ist ringförmig abgeschnitten.
In einer polarisierten Gegenposition zur Frau wirkt der jüdische Mann also mehr außerhalb der Familie und besucht, im Idealfall regelmäßig, die Synagoge zwecks lebenslangem Studium der Thora. Zum Verhältnis zwischen Mann und Frau ein Zitat aus dem Talmud: "…wer keine Frau hat, lebt ohne Freude, ohne Glück und ohne Seeligkeit…".
3. Orthodoxes, dogmatisches und liberales Judentum
Bis zu der alle Lebensbereiche der Menschen auf den Kopf stellenden Französischen Revolution 1789 entwickelte sich das Judentum, seit Moses, nach den Religionsgesetzen und deren Interpretation durch anerkannte Lehrpersönlichkeiten des Judentums. Das die Französische Revolution vorbereitende Zeitalter der Aufklärung, Mitte des 18. Jahrhunderts sowie die nach 1789 verstärkt einsetzende Emanzipation und spätere Assimilation der westeuropäischen Juden in ihr nichtjüdisches Umfeld, bewirkten die Aufspaltungen in verschiedene Glaubensrichtungen.
Einer der wichtigsten Gründe der Aufspaltungen ist die Auslegung der fünf Bücher Moses, die Thora. Dabei gilt für orthodoxe, also dogmatisch denkende Juden, dass die Thora Wort für Wort durch Gott direkt und unverrückbar niedergeschrieben, sowie ein durch Moses selbst überbrachter Text ist. Für liberale Juden ist die Thora jedoch Menschenwerk, also auslegungs- und damit auch anpassungsfähig. Beide Hauptrichtungen des Judentums unterteilen sich darüber hinaus in mehrere weitere sich unterscheidenden Gruppen, ja Sekten.
Paul Spiegel, 2005 Präsident des "Zentralrats der Juden in Deutschland" führt in seinem Buch "Was ist koscher?" für die in Deutschland am meisten verbreitete Glaubensrichtung den Begriff "MODERATE ORTHODOXIE" deshalb ein, weil in deren Synagogen die Glaubensansichten und Gottesdienstanforderungen der allermeisten orthodoxen sowie andere Spielarten des Judentums akzeptiert werden und praktiziert werden können. Dies schließt z.B. die reformorientierte, also Mann und Frau auch in religiösen Dingen gleichberechtigt behandelnde Ausprägung des Judentums ein. In den USA spielt letzterer Zweig des Judentums in Israel ab 1948 die orthodox-dogmatische Spielart der Religionsausübung die entscheidende Rolle. Beispiel für das Auseinanderstreben der Ansichten: im Falle einer jüdischen Eheschließung in Israel kann der nichtorthodoxe Partner ohne einen förmlichen Religionsübertritt zur orthodox-dogmatischen Form des Judentums seinen Partner nicht heiraten.
4. Reformjudentum in Mutterstadt
Alle nachstehenden Ausführungen der gesamten Geschichtsdokumentation zum Judentum beziehen sich ausschließlich nur noch auf unsere hiesigen Mutterstadter, sowie die Pfälzer jüdischen, liberalen, aschkenasischen Gemeinden des Reformjudentums.
Das napoleonische Reich, geprägt durch die Wertevorstellungen der französischen Revolution, dem bis 1814 Mutterstadt als Kantonshauptstadt angehörte, setzte auch für die südwestdeutschen linksrheinischen Juden die fortschrittlichen Ideen um, u.a. die Religionsfreiheit. Fortschritt bedeutete beispielsweise für die Pfälzer jüdischer Herkunft ab 1815 Bayern und somit Deutsche zu sein. Dies mit allen Rechten und Pflichten. Man passte sich also über einen Zeitraum mehrerer Jahrzehnte und zwar in allen Lebensbereichen an das nichtjüdische Umfeld an. Einzig die Religion war ausgenommen. Dies führte in Mutterstadt dazu, die Synagogen von 1838 und 1904/05, ähnlich den Kirchen, im neoromanischen Stil zu bauen, die Bänkeanordnung in der Synagoge, sowie den Gottesdienstablauf, einschließlich der Amtstracht der Rabbiner anzugleichen, wie dies in protestantischen Kirchen gehandhabt wurde. So gab es beispielsweise ein Harmonium im Gottesdienst, also Musik, was ebenfalls ein Merkmal dieser jüdischen Glaubensrichtung ist.
Aber noch mehr: Das im Judentum geltende Bilderverbot in Synagogen im Sinne von Darstellungen menschlicher Gesichter wurde übergangen: Die Synagoge von 1904/05 und deren Fenster erhielten als Glasmalerei sieben Motive, die Menschen darstellten, wie dies vergleichbar ist mit katholischen oder evangelischen Kirchen.
5. Jüdische Feiertage
Der Schabbat wird im Hause begangen und geehrt durch Entzünden von Kerzen als eine Art Weihe, begangen mit einem festlichen Mahl, oftmals mit Gästen sowie dem gemeinsamen Studium von Thora und Talmud. Freudigen Charakter tragen auch die drei Wallfahrtsfeste, ursprünglich Erntedankfeste. Zur Vorbereitung des Pessach-Festes wird alles Gesäuerte aus dem Hause verbannt.
Am 14. Nissan, dem Seder-Feiertag, versammelt sich die Familie und gedenkt des Auszuges aus Ägypten. Das Wochenfest–Schawuoth, am 6. Siwan gefeiert, erinnert an die Gesetzgebung Gottes auf dem Sinai. Das Laubhüttenfest, Sukkoth, ist das jüdische Erntedankfest. Den Neujahrstag, Roschha-Schana, am 1. und 2. Tischri, verbringt der Jude in der Synagoge wie auch den Versöhnungstag, Jom Kippur , am 10. Tischri, dem Tag der Buße, den er durch 24-stündiges Fasten heiligt. Der Liturgie beider Tage gemeinsam ist das Blasen des Widderhorns, dem Schofar, zu sehen auch auf dem Josua-Motiv des Mutterstadter Synagogenfensters.
Zu diesen von der Thora gebotenen Feiertagen kommt noch das am 25. Kislew beginnende Einweihungsfest, Chanukka genannt, das mit seinen Lichtern an die Wiedereinweihung des Tempels, 164 o. 165 vor Chr. erinnert. Außerdem das Fest der Lose, Purim, am 14. Adar, ein fröhliches Fest zur Erinnerung an die Rettung der babylonischen Juden durch die Königin Esther. Am Fest der Gesetzesfreude, Simchat Thora, am 8. und 9. Tag des Laubhüttenfests, endet der Zyklus der Thoralesung in der Synagoge. Zeichen der Freude ist das Tanzen mit der Thorarolle. Am 9. Aw trauert man um die zweimalige Zerstörung des Tempels 587 vor Chr. und 70 nach Chr.
6. Aschenkenasische, sephardische und jemenitische Juden
Drei Gruppen der Juden prägen hauptsächlich deren Brauchtum. Aschkenasim, eigentlich die deutschen und französischen Juden, die seit dem Mittelalter sich ostwärts bis nach Russland, in der Neuzeit auch nach Amerika, Australien, Südafrika und Israel ausbreiteten. Ihre Sprache war und ist zum Teil noch heute -neben dem Beherrschen der Landessprache- das Jiddische , ein mittelalterlicher, deutscher Dialekt mit osteuropäischen, lokalen Worten vermischt. Besonders die Ostjuden in Polen, Galizien und Russland, die schon im Mittelalter aus Deutschland, insbesondere aus der Rheinebene kommend, einwanderten, hielten streng an ihren religiösen Bräuchen und an der praktizierten Sprache, dem Jiddischen fest.
Sephardim sind die Nachkommen des spanischen und portugiesischen Judentums, die sich besonders in Nordafrika, Saloniki (Griechenland), Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, London und Amsterdam niedergelassen haben. Ihre Sprache war und ist zum Teil heute noch das Spaniolische oder Ladino. Beide, Aschkenasim und Sephardim, unterscheiden sich durch die Aussprache des Hebräischen. Die Sepharden richten sich in religionsgesetzlichen Fragen nach dem Gesetzeskompendium Schulchan Aruch; die Aschkenasen, zu denen auch die Gemeinde in Mutterstadt gehörte, außerdem nach den Glossen des Rabbi Moses Isserle hierzu. Die arabisch sprechenden Jemeniten zeichnen sich durch ihre synagogale Poesie und ihre die Konsonanten scharf unterscheidende hebräische Aussprache aus.
Autor: Herbert H.W. Metzger, Jahrgang 1940, unternehmerisch tätig, amtierte von 1980-1990 als Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt. Im Rahmen von zwei Bürgeraktionen und dieser Publikation "Die ehemalige jüdische Gemeinde und ihre Nachkommen" engagiert er sich, das Unrecht, begangen an der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Mutterstadt und der Pfalz, aufzuarbeiten und vor allem die Jugend über das Schicksal des Pfälzer und Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteils zu informieren.