Mitte des 18. Jahrhunderts.: die 1. Betstube für Hausandachten im Dachgeschoss eines kleinbäuerlichen Anwesens Obere Kirchstraße / Ecke Rheingönheimer Straße, damals Grasweg genannt. Da 1829 die Mutterstadter Mikwe aus Hygienegründen staatlicherseits geschlossen werden sollte, ist anzunehmen, dass sich die Mitke sich ebenfalls in diesem Anwesen befand.
1832: die 2. Betstube rechts neben der Eingangstür des an der Straße stehenden Wohnhauses. Das Anwesen wurde durch Nathan Dehlheim (Dellheim), 1734 ersteigert und von der israelitischen Kultusgemeinde 1832 teilweise erworben.
1904/05: Synagogenerweiterung. Durch Abriss des straßenseitigen Dellheim`schen Wohnhauses und Verlängerung des 3 Fensterachsenlangen langen Baukörpers um zwei weitere Achsen entsteht die Synagoge von 1904/05.
Ernest Loeb, New York, USA
Alfred (Fred) Dellheim, Berlin
Werner Dellheim, Ocala, Fl. USA
Das Ewige Licht der Mutterstadter Synagoge: Zu dem oben gezeigten Bericht ist noch hinzuzufügen, dass dieser Ritualgegenstand der einzige ist, der der Zerstörung in der "Reichskristallnacht" 09./10.11.1938, entgangen ist.
Das Ewige Licht, über dem Thoravorlesepult angebracht, wird auch Schabbat-Leuchte genannt. Dieses ölbetriebene Kultgerät aus der Synagoge von 1838 wurde um 1925 von einer elektrobetriebenen Version abgelöst. Diese ging 1938 mit der Synagogenzerstörung unter.
Synagogenfenster-Glasmalerei, das Bilderverbot in Synagogen durchbrechend: Keine menschenzeigenden Bilder in Synagogen zu präsentieren geht auf das Gebot zurück "…du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen…". Das seit 1838 praktizierte Reformjudentum hatte u.a. zur Folge, dass Synagogenbauten denjenigen christlicher Kirchen angeglichen wurden. Mutterstadt ging einen Schritt weiter: Vergleichbar mit christlichen Kirchen wurden die sieben Glasmalereien auf den Synagogenfenstern mit Menschen darstellenden Motiven ausgestattet. Das obige Bild zeigt die Handskizzen des Werner Dellheim, Florida, auf deren Basis Michael Kunz die Bilder künstlerisch rekonstruiert.
1. Die Dachgeschossbetstuben und die Synagogen der israelitischen Kultusgemeinde Mutterstadt im Überblick.
Zunächst: Alle Räumlichkeiten, auch vollkommen unattraktive Bauten, eignen sich für eine Betstube, ein Bethaus, eine Synagoge, auch Schul genannt. Abhängig von den finanziellen Möglichkeiten einer Gemeinde, diese abhängig von der Anzahl der Gemeindemitglieder -in Mutterstadt sind dies während des ganzen 18. Jahrhunderts ca. drei bis fünf Familien- hat man es, wie in den meisten übrigen kleinen südwestdeutschen jüdischen Landgemeinden, mit einem im 18. Jh. erbauten, bäuerlichen, etwas armseligen Fachwerkhaus zu tun, in dessen Dachgeschoss die Betstube untergebracht war. Das Haus lag im "Oberdorf" von Mutterstadt.
Im August 1832 -die jüdische Gemeinde ist zahlenmäßig auf ca. 85 Personen gewachsen- erwirbt die israelitische Kultusgemeinde im "Unterdorf" einen "Hausteil mit Platz" schräg gegenüber dem heutigen Historischen Rathaus, zum Eigentum. Es ist ein vergleichbares Bauernhaus wie das in der Oberen Kirchstraße, wobei aber der Verkäufer Abraham Dellheim und seine Nachkommen einen Teil des Hauses bis 1877 weiter bewohnten. 1838 -aus zwei verschiedenen amtlichen Lageplänen und ausweislich dem Grundsteuer-Katastereintrag vom 31.08.1832 wissen wir, dass die Scheune abgerissen ist-, wird der hintere Teil des Bauernhauses ebenfalls entfernt und ein drei Fensterachsen langer Neubau aufgerichtet. Dies durch ein unmittelbares Anbauen an den weiterhin zu Eigentum des in der Dellheim-Familie verbleibenden straßenseitigen Hausteils.
Der 1. Sakralbau, die 1. Synagoge in Mutterstadt mit einer Frauenempore über dem seitlichen Eingangsbereich entsteht. Die Baukubatur sowie die verwendeten Materialien entsprechen dabei exakt derjenigen, die aus den Synagogenpostkarten, gedruckt nach 1904, bekannt ist. Nach Teileinsturz dieses Neubaus von 1838 im Bereich der Frauenempore 1868 und einer daraufhin stattfindenden Generalreparatur 1871 erwirbt 1877 die Kultusgemeinde den straßenseitigen Rest des Fachwerkhauses von der Dellheim Familie, reißt diesen 1904 ab und verlängert den 3-Fensterachsen-Bau von 1838 um zwei weitere Fensterachsen. Zusammen mit einer neuen, dem Jugendstil nachempfundenen Fassade findet die Synagogenerweiterung des Jahres 1904/05 ihren endgültigen, älteren Bürgern noch bekannten Abschluss.
2. Die Synagogen von 1838 und 1904/05: Ein Rekonstruktionsdaten-Puzzlespiel
Baupläne und Bauunterlagen der Synagogen von 1838 und 1904/05 sind verschollen. Ab 2001, zu Beginn des Rekonstruktionsvorhabens der Synagoge, glaubte man die Baumaße und sonstige Informationen ausschließlich aus vier vorhandenen Synagogenpostkarten und Höhenvergleichsmessung an den noch heute in der Nachbarschaft stehenden Gebäuden gewinnen zu können. Da gelang es, aus dem Speyerer Landesarchiv ein 32-seitiges Bauabrechnungsdossier über eine Großreparatur des Jahres 1871 einschließlich detaillierter Handwerkerrechnungen, u.a. der Malerfirma und des Fenstergesimsherstellers sowie eine Balkendimensionsliste des Zimmermanns aufzuspüren. Diese Rechnungen ermöglichten es, klare bauliche Dimensions- und Dekorationsangaben zu ermitteln. Es ging um eine Großreparatur des 1868 eingestürzten Teils der Synagoge im Bereich des Eingangs und der Frauenempore.
Reparatur bedeutet etwas Vorhandenes, nämlich die Synagoge des Jahres 1838, wieder herzustellen. Angaben zur Reparatur 1871 sind somit die Baubeschreibung der 1838er Synagoge.
Da weiterhin aus den Grundbuchblättern des Grundbuchamtes, damals in Oggersheim, für das Synagogengrundstück alle Gebäudezu- und -abgänge hervorgehen, außerdem die Veränderungen der amtlichen Lagepläne von 1837 und 1905 die Baugrundrisse auf diesem Grundstück und deren Veränderungen ebenfalls nachvollziehbar machen, ist eine wichtige und für die Rekonstruktion entscheidende Erkenntnis gewonnen: Die Bauaktivitäten des Jahres 1904 waren ein Bauernhausabriss und eine Baukubaturverlängerung der vorhandenen Synagoge von 1838 zur Oggersheimer Straße hin sowie die Errichtung einer dem Jugendstil angeglichenen Fassade , einschließlich einer Dachkuppel. Außerdem wurde die Frauenempore sowie der dazugehörige Treppenaufgang in dem 1904 neu erbauten Teil umplatziert.
Angaben über farbliche Gestaltung des Innenausbau der Synagoge von 1838 bzw. 1871 bis 1903 konnten durch die Malerrechnungen ebenfalls eindeutig geklärt werden. Für die Zeit nach 1904 stehen uns die Angaben von Werner Dellheim, Florida, USA, zur Verfügung.
3. Die Rekonstruktion der Innengestaltung: ein jüdisch- nichtjüdisches Teamwork
Drei Mutterstadter Juden sind in diesem Zusammenhang, 2005, zu nennen: der verstorbene Ernest Loeb, in New York, USA, der ebenfalls verstorbene Fred Dellheim, Berlin, und Werner Dellheim, Florida, USA. Ernest steuerte bereits 1988 in einem Brief, Fred 2003 eine Einrichtungsgrundrissskizze und Werner 2003 weitere Angaben zur Synagoge von 1904/05 bei, die zuletzt ein 32-seitiges Baudetaildossier ergaben. Ausgestattet mit diesen Angaben und zusammen mit den Auswertungen des Reparaturdossiers von 1871 wurde die Rekonstruktion der Synagoge von 1838 und 1905 möglich.
Die Rekonstruktion der Synagogenfensterbildmotive basieren auf Skizzen von Werner Dellheim und einer 3-D-Computerdarstellung der Synagoge, erstellt durch Dipl. Innenarchitektin Sybille Metzger. Die farbliche Wiederauferstehung der sieben figürlichen, Menschen darstellende Bildmotive der Synagogenfenster erfolgte durch sieben Aquarellzeichnungen des Künstlers Michael Kunz, Mutterstadt.
4. Die Paula & Nancy Eppler-Story: das Ewige Licht oder die Suche nach dem verlorenen Schatz.
Während einer 2003 durchgeführten Recherchereise im Zusammenhang mit der Gewinnung von Erkenntnissen über Baudetails und Einrichtungsgegenstände, zu Werner Dellheim, Ocala, Florida/USA, wurden auch die mit Mutterstadt verbundenen jüdischen Familien, die Witwe von Ernest Loeb, Frau Lotti Loeb, die Nachkommen der Dellheim’schen Zigarrenfabrik in der Schulstraße, Arthur und Isadora Dellheim, die Witwe und Söhne von Walter Dellheim, New York sowie, Ruthe und Heinz Eppler, New York, besucht.
Im Zusammenhang mit einem familiären Fest im Anwesen der Tochter Nancy Eppler-Wolf, etwas außerhalb von New York gelegen, fiel in deren Wohnzimmer eine Messing-Hängeleuchte auf. Der Betrachter, in Begleitung von Nancys Vater Heinz, äußerte sich in bewundernder Weise über diese schöne Leuchte.
Nancy, entsprechend gefragt, was es mit der Leuchte auf sich hat, und ohne sich der Bedeutung ihrer Antwort ihrem ahnungslosen Vater und seinem Begleiter gegenüber richtig bewusst zu sein, sagte: "That´s the Eternal Light of the Synagoge of Mutterstadt" – "Das ist das Ewige Licht der Synagoge von Mutterstadt". Die Hintergrundinformation dabei: Der Mutterstadter Synagogenvorsteher, der 1938 die von den Nationalsozialisten für die deutschen Juden ausgehende Katastrophe ahnte, hatte Nancys Großmutter Paula Eppler die Leuchte ausgehändigt.
Dies im Zusammenhang mit deren Auswanderung im Frühjahr 1938 in die USA und mit den Worten: "Bei euch ist das Ewige Licht besser aufgehoben". Paula Eppler bewahrte die Leuchte viele Jahre im Keller ihres Hauses in einer Truhe auf. Anlässlich der Hochzeit ihrer Enkelin Nancy war das Ewige Licht ihr Hochzeitsgeschenk: von Mutter zur Enkeltochter. Männer blieben "außen vor".
5. Die Werner Dellheim-Story: die Menschen darstellenden sieben Motive der Synagogenfenster.
2003: Baudetails, auf einer Zuchtranch für Vollblutpferde unter Floridas Palmen zusammenzutragen war, bezogen auf den Mutterstadter Werner Dellheim, von mehreren Überraschungen geprägt. Werner -einigen Mutterstadtern ist sein phänomenales Gedächtnis bekannt- konnte mit der Festlegung und Übermittlung aller wichtigen Baudetails der Synagoge entscheidend für eine wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion des Gebäudes von 1904 beitragen. Das Erstaunen jedoch war groß, als dieser eröffnete, dass die sieben Fenster des Synagogenhauptraumes bemalt waren und zwar mit Menschen darstellenden Bildmotiven als Glasmalerei. Pro Fenster gab es vier Motive, also insgesamt 28 Bilder, eine Art Bilderbuch. Eine extrem verblüffende Aussage gilt doch in den Kulträumlichkeiten der Juden das Bilderverbot, also das Verbot menschliche Gesichter zu zeigen. Der Rechercheur, aufgeregt, eine Einmaligkeit, eine kleine Sensation witternd, begann sofort nach Werners Schilderung seine sichtbar beschränkten Zeichenkenntnisse in Form von sieben Skizzen zu Papier zu bringen. Der adleräugig beobachtende, die Skizzierergebnisse des Rechercheurs kritisch würdigende Werner, war offensichtlich mit den Zeichnungen nicht zufrieden. Er machte kurzen Prozess: im besten Mutterstadterisch "…Gäb her, dass isch der dess uffmool…" nahm er das Papier und fertigte, wie jedermann dies sehen kann, eigenhändig und sehr gekonnt, weil auch authentisch, die Zeichnungen an, auf deren Basis die Aquarelle des Künstlers entstanden.
Autor: Herbert H.W. Metzger, Jahrgang 1940, unternehmerisch tätig, amtierte von 1980-1990 als Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt. Im Rahmen von zwei Bürgeraktionen und dieser Publikation "Die ehemalige jüdische Gemeinde und ihre Nachkommen" engagiert er sich, das Unrecht, begangen an der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Mutterstadt und der Pfalz, aufzuarbeiten und vor allem die Jugend über das Schicksal des Pfälzer und Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteils zu informieren.
Quellen: "Die Bibel und ihre Welt", Lübbe-Verlag GmbH, Seiten 645, 1325, 1329. "Geschichte", Historiographisches Institut, Essen, Heft #64, Seite 5 u. Nr. 12 (2004), Seite 14