Die Betstube für Hausandachten in der Oberen Kirchstraße / Ecke Rheingönheimer Straße. Das um 1725 erbaute, um 1980 abgerissene Fachwerkhaus hatte seine Funktion als Betstube im 18. Jh. und bis 1832. Anschließend wurde es vom damaligen Synagogenvorsteher als Wohnhaus weiterbenutzt. Dies, nachdem die Hausandachten seit 1832, in dem von der israelitischen Kultusgemeinde in der heutigen Oggersheimer Straße teilweise erworbenen Wohnhaus der Dellheim-Familie abgehalten wurden. Ab 1838 übernimmt die neugebaute Synagoge auf dem gleichen Grundstück, welches man von Abraham Dellheim gekauft hatte, die Funktion der Betstube.
Die Dachgeschoss-Betstube in der Oberen Kirchstraße um 1760. Gottesdienste in zu Betstuben umfunktionierten Dachgeschossen waren üblich und logisch: die meist bitterarmen, als Außenseiter des dörflichen Lebens geltenden Juden durften sich im 18. Jh. keinen eigenständigen Sakralbau errichten. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren in einem speziell angefertigten, ca. 120cm hohen und 80cm breiten, fest mit der Ostwand verbundenen Schrank die Thorarollen, das Herzstück der Betstube, untergebracht. Links unten dem Treppenaufgang, rechts der siebenarmige Leuchter.
1734: Nathan Dellheim, ein kurfürstlicher Schutzjude, ersteigert ein Anwesen im Ortszentrum, des "Unterdorfes". Das aus obigen Angaben exakt zu lokalisierende Anwesen, seit 1734 Heim der Dellheim-Familie, ist ab 1832 auch eine Betstube und ab 1838 Platz des Synagogensakralbaus in der Oggersheimer Straße, damals Rheinstraße, und zu Zeiten Nathans Gemeine Gass genannt. Die 1771 auf 15 Juden ansteigende dörfliche Minderheit, per Gesetz an Zuzug, aber auch an Eheschließung gehindert, kann sich erst unter französischer Herrschaft, ab 1793 bevölkerungsmäßig und wirtschaftlich entwickeln.
Mutterstadt im 18. Jh. und Napoleon I, Kaiser der Franzosen und Exekutor der Französischen Revolution 1789. Die zwei Bildmotive bringen die Lebensumstände zum Ausdruck, in denen linksrheinische jüdische Familien lebten: Im 18. Jh. zunächst noch Außenseiter, ständig durch die Wohnsitzverweigerung feudaler Herrscher bedroht, stößt die französische Revolution 1789 die Tür zur Gleichberechtigung auf hin zu bürgerlichen Freiheiten. Dies gilt auch für Juden, von deren Bürgerfleiß alle südwestdeutschen Gemeinden u.a. Mutterstadt profitieren.
Das kurfürstliche, hauptstädtische Feudalschloss der Festungsstadt Mannheim. Die ca. 300m außerhalb des oberen rechten Bildrandes gelegene Schiffsbrücke über den Rhein führte zu dem gegenüberliegenden befestigten Brückenkopf "Rheinschanze", dem heutigen Ludwigshafen. Dies war Nathan Dehleims Weg, wenn er vom ca. 10km weit entfernt liegenden Mutterstadt seine Mannheimer Kunden aufsuchte. Für die 1720 unter Kurfürst Carl Philipp beginnende Errichtung des Schlosses mussten u.a. die Mutterstadter Juden eine Extra-Steuerumlage bezahlen.
1. Die 1. Betstube oder Cheder-Schul für Hausandachten in der Oberen Kirchstraße / Ecke Rheingönheimer Straße
Die schulische, überwiegend religiöse Ausbildung aller Konfessionen blieben in kurpfälzer Zeiten bezüglich Schulhaus, Lehrer und Lehrinhalte ausschließlich Angelegenheit der jeweiligen Religionsgemeinschaften. Um das jüdische Religionsgebot, bezogen auf männliche Juden, erfüllen zu können, nämlich bei Erreichen der religiösen Volljährigkeit, mit 13 Jahren, aus der Thora vorlesen und somit auch schreiben zu können, war im ländlichen Raum die Errichtung einer "Schul" unabdingbar. Dies im Regelfall im Dachgeschoss eines Bauernhauses. In Mutterstadt befand sich dieses Ecke Obere Kirchstraße und Rheingönheimer Straße.
Das in unmittelbarer Nachbarschaft zur katholischen Schule und schräg gegenüber der Kirche gelegene Fachwerkeckhaus beinhaltete die im Erdgeschoss liegende Wohnung einer jüdischen Familie und Anfang des 19. Jahrhunderts die Wohnung des Religionslehrers und / oder des Gemeindevorstehers.
Aus einem Schreiben des Frankenthaler Bezirksrabbiner Aaron Merz vom 02. März 1831 an die "Königliche Regierung des Rheinkreises, Kammer des Innern" in Speyer geht hervor , dass obige Schul = Synagoge in einem Privathause droht einzustürzen. Aus diesem Hinweis ziehen wir das Wissen, dass die jüdische "Schul" auch für gemeindliche religiöse Zwecke, also als Betstube genutzt wurde.
Wird die obige Schule für Religionsunterricht und gleichzeitig die Betstube irgendwann Mitte des 18. Jh. ihre Funktionen aufgenommen haben, so ändert sich dies im Jahre 1832 mit dem Neuerwerb eines Anwesens in der heutigen Oggersheimer Straße und der Verlagerung der Funktionen, dorthin. Der Pflicht-Volksschulunterricht wird den jüdischen Kindern seit 1817 in christlichen Schulen erteilt. In der Jahnstraße, der heutigen Seniorentagesstätte, wird um 1870 der Volksschul-und Religionsunterricht zusammengefasst und bis 1915 aufrecht erhalten.
War das Auffinden einer Fotografie des ehemals jüdischen Fachwerkhauses mit der im Dachgeschoss gelegenen Betstube relativ einfach, konnte am 18.08.2004 bezüglich der Lage des Betraumes und aller sonstigen, eine Betstube betreffenden Umstände ein erstaunliches Recherchegespräch mit der Familie Harald Batzler, Speyerer Straße, geführt werden. Harald ist im besagten Fachwerkeckhaus groß geworden.
Harald: "…. ich weiß nicht viel, außer, dass in dem armselig ausgestatteten Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, eine Art Leiter in das Dach führte und von einem ganz eigentümlichen Schrank darin, der an der Längswand zur Rheingönheimer Straße hin an die Wand geschraubt war. Der war bloß vielleicht 25 cm tief. Als mein Großvater diesen aufbrach, waren darin Gewehre aus dem Ersten Weltkrieg. Die sind dann gleich fortgeschafft worden….
"Frau Batzler: "… Ja, da muss etwas Besonderes im Dachgeschoss gewesen sein. Ich entsinne mich, dass die Großmutter von Juden im Zusammenhang mit dem Haus gesprochen hat….
"Harald Batzler: "….auch war im ganzen Obergeschoss keine einzige Wand drin, die Ziegel hat man nicht gesehen, der Raum war ausgebaut. Die Großmutter hat später Zwischenwände einziehen lassen….
"Frau Batzler: "…. und wegen dem Schrank und dass er keine richtige Tiefe gehabt hat: bringen die Juden nicht ihre Thoras in solchen Schränken unter?…."
2. Die 1. jüdische Familie: Nathan Dehlheim später Dellheim geschrieben.
Woher die Familie Nathan Dehlheim kommt, ist nicht bekannt. Nathan sprach neben Deutsch und Hebräisch mit großer Wahrscheinlichkeit auch Jiddisch, ein deutscher Dialekt, der in Osteuropa mit polnischen und russischen Worten ergänzt wurde. Jiddisch, eine eigenständige Sprache, wird heute noch u.a. in New York im jüdischen Viertel als Umgangssprache gesprochen.
Nathan, gekleidet in einem Kaftan, eine Art bodenlanger Mantel, eine jüdische Tracht, Bart und Schläfenlocken tragend, stand seiner Familie im Sinne eines jüdisch-orthodoxen Familienpatriarchen vor. Sein Wort und sein Urteil waren für die übrigen Familienmitglieder unantastbar. Er hatte die Familie nach außen hin zu vertreten, besuchte in Mannheim oder Wachenheim Gottesdienste, also in den nächstgelegenen größeren kurpfälzischen Judengemeinden. Ab Freitagabend wurde in der Familie der Sabbat gefeiert. Zusammen mit den übrigen Juden in Mutterstadt wird er in der im Dachgeschoss untergebrachten Betstube in der Rheingönheimer-/ Ecke Obere Kirchstraße seine Hausandachten abgehalten haben.
Seine Frau, üblicherweise kennengelernt durch einen Heiratsvermittler, hatte wie alle Frauen u.a. dank des Reform-Rabbiners Rabbenu Gerschon schon ab dem 10. Jh. im jüdischen Haushalt, "also nach innen", religiöse Pflichten und Rechte, beispielsweise die wöchentliche Sabbatfeiern durchzuführen, was ihren Status als Frau sehr hob.
Ehefrau ist sie, wie jede jüdische Frau per Ehevertrag geworden, was aussagt, dass ihr Vermögen bei einer entsprechenden Scheidung letztendlich in ihren Händen blieb. Das Zusammenleben mit den direkten Nachbarn, also den Katholiken des Oberdorfes mit dem Zentrum " Katholische Kirche" war unproblematisch: Alle Juden teilten mehr oder weniger die grassierende Armut u.a. der nach Mutterstadt neu hinzugezogenen. Diese lebten außerhalb des Dorfgrabens und der Dorfmauer des protestantisch geprägten "Unterdorfes" mit seiner Protestantischen Kirche.
Wie auch immer: 1734 wird Nathan zu einem Aufsteiger. Er überwindet, bildlich gesprochen, Dorfgraben und -Mauer, "dringt" bis an das Rathaus des Unterdorfes vor und ersteigert dort direkt neben der damals noch in religiöser Hinsicht eigenständigen Lutherischen Gemeinde ein bäuerliches Anwesen. Dessen Anbau funktioniert er wohl schnell zu Pferdeställen um, denn Pferdezucht und -handel ist seit dieser Zeit bis heute, 2005, in den Händen der Dellheim-Familien. Der 40-jährige Norman Dellheim, Sohn von Werner und Alma Dellheim in Occala, Florida/USA, übt immer noch -bisdato ununterbrochen- den Beruf des Pferdezüchters und -händlers aus.
3. Lebensumstände im häuslichen und beruflichen Umfeld jüdischer Familien des 18. Jahrhunderts.
Betrachten wir das Umfeld, in dem jüdische Menschen des 18. Jahrhunderts in der Kurpfalz lebten -eine Zeit, in der Juden Außenseiter waren- fällt auf, dass diese für ihr Wohn- und Aufenthaltsrecht Geld bezahlen mussten. In Mutterstadt wohnten ab 1719 -direkt dem im Mannheimer Schloss als Feudalherren residierenden Kurfürsten Carl Philip unterstellt- Juden. Sie zahlten Steuern und Abgaben an den Kurfürsten und die Gemeinde Mutterstadt. Fakten: Alle zwölf Jahre mussten die Schutzjuden u.a. den Kurfürsten Carl Philip und Carl Theodor, vertreten durch ihren Landesrabbiner, die Bedingungen ihres geduldeten Aufenthaltes in der Kurpfalz neu aushandeln, so auch am 07. August 1744.
Damit verbunden und bezogen auf Nathan Dehlheim, später Dellheim, geschrieben, war das persönliche Vorsprechen auf dem für ihn zuständigen Oberamt Neustadt und der Nachweis, dass er alle kurfürstlichen Geldforderung der Vergangenheit ausgeglichen hatte. Auch die Zahlung der neu festgelegten Schutzgeldforderung von acht Gulden und 30 Kreuzen für jeweils eines der nächsten zwölf folgenden Jahre mussten an diesem Tage geleistet werden.
So beinhaltete diese neue Konzession auch die Bestimmung, dass in der gesamten Kurpfalz max. 300 jüdische Familien wohnen und keinen wucherischen Handel treiben durften. Dies erklärt auch, warum u.a. in Mutterstadt die Anzahl der drei bis fünf jüdischen Familien im 18. Jahrhundert stagnierte.
Einem nichtkonzessionierten Juden "Unterschlauf" -Unterschlupf- zu geben war ebenso verboten, wie es -im Gegenzug- erlaubt war, sich mit Seinesgleichen zu versammeln, sein 1. Kind gegen eine Gebühr von 600 Gulden, sein 2. Kind für 1500 Gulden zu verheiraten und das Recht zu haben, nach der Heirat der Kinder deren Aufenthaltskonzession beispielsweise in Mutterstadt zu erwirken.
Gestattet wurde es Juden auch Begräbnisplätze anzulegen, Glaubens- und "Ceremonialsachen" in eigener Gerichtsbarkeit auszufechten, gegen eine zusätzliche Schutzgeld-Jahres-Gebühr wegzuziehen und das Recht verbrieft zu erhalten, keine militärischen Einquartierungen dulden zu müssen.
Und noch eine wichtige Bestimmung wurde Nathan pro Jahr auferlegt: "Wegen genießenden Wasser und Weide" musste er der Gemeinde Mutterstadt sechs Gulden Obolus abliefern. Waren Juden "über Lande unterwegs" mussten diese darüber hinaus "Geleitgeld" bezahlen.
1731 also drei Jahre vor der Ersteigerung des späteren Synagogengrundstücks in der Oggersheimer Straße durch Nathan lebten sieben Juden in Mutterstadt, 1754, Nathan ist zwischenzeitlich gestorben, wird erstmals Feibelmann Löb, 1771 Jeckoff (Jakob) und die Familie Mayer in der Mutterstadter Ortschronik " Mutterstadt in Vergangenheit und Gegenwart", Seite 306, genannt.
4. Existenzen und Existenzbedrohungen, sowie die Bevölkerungsentwicklung in den Jahren 1701 bis 1757
Im Regelfall und begründet auf eine auf das Mittelalter zurückgehenden Gesetzgebung waren für Juden Tätigkeit als Handwerker und Bauer nicht erlaubt.
Die in Mutterstadt im 18. Jh. wohnenden, etwa drei bis fünf jüdischen Familien, diese Vieh- und Pferdehandel treibend oder mit außerhalb des Ortes zu verkaufenden Waren handelnd, dürften auch in der in Stundenfrist per Kutsche erreichbaren kurpfälzischen Hauptstadt Mannheim ihre Kunden gefunden haben. Handel mit Tieren und Waren, bestenfalls mit Geld, waren für jüdische Menschen somit vorgezeichnet, um ein im 18. Jahrhundert armes, im Regelfall unspektakuläres, unauffälliges Leben inmitten des nichtjüdischen Umfeldes zu führen. Unauffällig zu sein, beispielsweise bei der Religionsausübung, war eine Frage des Überlebens in einem latent antijudaischen, christlichen Umfeld. Dieses Umfeld ließ zwar arme Juden überleben, beraubte diese aber in unregelmäßigen Abständen seit 1000 Jahren, beispielsweise durch Vertreibungen der Früchte ihrer Arbeit: Man nahm diesen Menschen im Mittelalter zu Tausenden, im 20. Jahrhundert zu Millionen, das Leben. Dies immer dann, wenn Wohlstand und Fortkommen der Juden, Neid und Missgunst der Nichtjuden erweckte oder wenn Sündenböcke für staatliche Misswirtschaft und Fehlentscheidungen gesucht wurden.
Wegen eines Großbrandes 1701, auch wegen der die Lebenssubstanz des 106 Familien-Ortes mit 600-700 Köpfen (1719) bedrohenden Plünderungen deutscher (1704) und französischer Soldaten (1706), dies auch während des Spanischen Erbfolgekriegs (1701-1714), lag Mutterstadt wirtschaftlich danieder.
Auch der 1733 beginnende Polnische Thronfolgekrieg (1733-1735), der Österreichische Erbfolgekrieg (1740 –1748) brachten Franzosen (1735) und Engländer (1743/45) nach Mutterstadt. Eine Soldateska also, die wiederum Plünderungen durchführte, um Essen, Trinken und Heizmaterial zu bekommen und um sonstige Lebensbedürfnisse zu stillen. Mit den gleichen Notwendigkeiten verbunden brachte der Siebenjährige Krieg (1756-1763) kaiserlich-deutsche und französische Truppen samt deren Einquartierung in das Dorf (1757). Dazu kamen vertriebene Zivilisten aus dem Inneren Deutschlands, aus Frankreich und der Schweiz. Die Nachfrage nach Waren und Tieren konnte u.a. auch die jüdischen Einwohner stillen.
Autor: Herbert H.W. Metzger, Jahrgang 1940, unternehmerisch tätig, amtierte von 1980-1990 als Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt. Im Rahmen von zwei Bürgeraktionen und dieser Publikation "Die ehemalige jüdische Gemeinde und ihre Nachkommen" engagiert er sich, das Unrecht, begangen an der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Mutterstadt und der Pfalz, aufzuarbeiten und vor allem die Jugend über das Schicksal des Pfälzer und Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteils zu informieren.
Quellen: "Die Bibel und ihre Welt", Lübbe-Verlag GmbH, Seiten 645, 1325, 1329. "Geschichte", Historiographisches Institut, Essen, Heft #64, Seite 5 u. Nr. 12 (2004), Seite 14