2.4.6 Die 1. Synagoge von 1838 und die Großreparatur der eingestürzten Frauenempore 1871. Die Lebensumstände jüdischer Bürger im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Obiger Kostenanschlag vom April 1871 über 1400 Gulden für die "Instandsetzung des bestehenden Synagogenbaus noch notwendige Ausbesserungsarbeiten" sowie Handwerkerrechnungen lassen die Rekonstruktion aller Baumaße zu, ebenso die Festlegung aller farblich behandelter Oberflächen der Synagoge von 1838 und 1871.

Die Handwerkerrechnung des Valentin Bauer lässt es zu, alle Oberflächen der Synagoge und des Nebengebäudes, innen und außen zu bestimmen. Der hebräisch geschriebene Spruch über der längsseitig platzierten Eingangstür zur Synagoge lautete: "Hier die Schwelle des Herrn, nur der Fromme und Gerechte soll sie betreten" wird von Bauer malermäßig überarbeitet. Laut Werner Dellheim, 2003, war nach der Erweiterung 1904 weder dieser Spruch, noch das ehemals darüber gelegene Fenster zur Belichtung der Frauenempore vorhanden.

Das Gemeinderatsprotokoll, übrigens unterschrieben von dem damaligen Synagogenvorsteher und Gemeinderat Leo Löb, zeigt exemplarisch, wie die damalige Arbeit des Gemeinderats funktionierte: lösungsorientiert und ohne Ressentiments gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsteil.

Das obige Foto zeigt das Ritualbad, die Mikwe, der mit Mutterstadt vergleichbaren Dorfsynagoge im elsässischen Bischheim. Durch die sichtbaren Bohrungen in den Sandstein-Bodenplatten konnte das rituell vorgeschriebene "bewegte" Wasser, in unserem Falle nachsprudelndes Grundwasser in das mindestens 1000 Liter fassende, über Sandsteinstufen zugängliche Badebecken eindringen. Es gibt genaue "königlich-baierischer Vorschriften für Kellerquellenbäder, der Israelitinnen". Die rituelle Reinigung vor dem Gottesdienst ist im 3. Buch Mose, 14-15 vorgeschrieben.

Das prächtige, handwerklich sehr gut ausgeführte, u.a. die jüdischen Teilnehmer am Deutsch-Französischen Krieg, 1870/71, ehrende Denkmal im "Alten Friedhof", wurde 1882 eingeweiht. Zusammen mit dem 1889 in Dienst gestellten jüdischen Friedhof, erfüllt dies die Mutterstadter Juden mit dem Gefühl als Deutsche jüdischen Glaubens, Gleichberechtigung in allen Lebenslagen erfahren und Anerkennung ihrer staatsbürgerlichen Leistungen gefunden zu haben. Heute ist der jüdische Friedhof Teil des Neuen Friedhofes und nur durch eine immergrüne Hecke getrennt. Prominentester Tote auf dem jüdischen Friedhof ist der einzige habilitierte, Mutterstadter Jude, Prof. Dr. Lazarus Koch. Er ist wegweisend im Archivwesen des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert.

1. Die große Synagogenreparatur des Jahres 1871 und die Wichtigkeit des "königlich-bairischen" Kostenanschlags vom April 1871.

Nach dem Teileinsturz der Synagoge im Bereich der Frauenempore 1868 musste das Gotteshaus umfangreich repariert werden und samt dem Nebengebäude, in dem u.a. die Mikwe, das Ritualbad, untergebracht war, innen und außen renoviert werden. Eine der wichtigsten Passagen des Kostenanschlages vom April 1871, Seite 3 lässt sich aus über "sauber bearbeitete Hausteine zu den 2 Rundbogenfenstern-Gewände, 0,30m x 0.20 m x 16.00 m" und "zu den Thore 6.00 m x 0,30 m x 0.20 m". Das ist u.a. der Beweis, dass die äußere Form der 1838er Synagoge identisch war mit derjenigen der Synagogenerweiterung von 1904/05. Dies gemäß den vorhandenen vier Postkartenfotografien.

Der Kosten-Anschlag und die dazugehörigen Bauabrechnungen, 32 DIN-A4-Seiten, einzusehen im Landesarchiv Speyer, H45 Nr. 3197, lassen zu, dass trotz fehlender Architektenpläne alle Maße der 1838 erbauten, 1871 generalüberholten und 1904 lediglich um 2 Fensterachsen = 7 Meter, verlängerten, seit 1838 vorhandene Bausubstanz nachvollzogen werden können. Die Bauabrechnung und Rechnungen geben auch Auskunft über die Farbgestaltung innen und außen.

Einige Details zur Bauausführung: Aus der ebenfalls vorliegenden Holzbalkenliste der Zimmererarbeiten, Seite 2, ist zu entnehmen, dass die Dachreparatur "die letzten 7.50 m des hinteren Bereiches umfaßten" und "…somit auch 10 Sparren 10/10 cm verwendet wurden…". Wir erfahren, ebenfalls auf Seite 5, unter "Emporen-Gebälk" von zwei Brüstungsbalken 10 cm x 20 cm, bei einer Länge von 7.25 m. Legt man die Balken auf Sandsteinkonsolen, ergibt sich die lichte Breite der Synagoge von 7,25m. Diese Breite der Synagoge von 1838/1871 ist auch die verbindliche Breite der Synagoge von 1904/05.

Wir wissen, dass die beiden Emporentragesäulen, diese rechts und links des Mittelganges, auf Sandsteinkonsolsteinen gelagert, und eine Emporenkonstruktion mit 30.57 qm Fußbodenbretter, 5/4, Zoll vorhanden war. Letztlich gibt der Malermeister Valentin Bauer in seiner Rechnung vom 03.12.1871 an, dass er fünf Fenster + eine Tür, was drei Bauachsen á 3.50m entspricht, malermäßig bearbeitet hat.

2. Handwerker im Zusammenhang mit der Großreparatur 1871

Im 19. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg (1914-1918) lag die Realisierung von öffentlichen Bauten, Kirchen und Synagogen in den Händen der "Königlich- Bayerischen Baubehörde" in Speyer. Im Falle der Synagoge in Mutterstadt war der damalige Bezirksbauschaffner Mert zuständig. Um den Handwerksmeistern die ihnen ungewohnte Schreibtischarbeit der Angebotserstellung zu ersparen, war es üblich, dass der "Königliche Bauschaffner" einen detaillierten "Kostenanschlag" für alle Gewerke erstellte und konkurrierende Handwerker lediglich dem Bauschaffner in Form einer Prozentzahl mitteilten, wie viele Prozente er eventuell bereit war, diesen "Kostenanschlag" zu unterbieten oder unverändert, unterschrieben zurückzugeben! Der billigste Anbieter bekam dann, wenn nicht, was auch vorkam, gemauschelt wurde, den Auftrag. Nach erledigter Arbeit wurden die Rechnungen gestellt.

Wie die Synagoge von 1838 spätestens nach der Reparaturarbeit 1871 farblich gehalten war, geht aus der Malermeisterrechnung des Valentin Bauers, August 1871, hervor. Hier einige Angaben: – die 78,58 qm große Decke im Synagogenhauptraum war geweißt, die 114,20 qm großen Wandflächen "gelbgrau mit Leimfarbe angestrichen, mit Friesen abgezogen und mit einer einschlägigen Bordur versehen". – Ölfarbenanstriche erhielt das Innere eines Schrankes in blau, das Äußere desselben in "weißgrün" "Der Altar", das Thoravorlesepult, auf dem Bimapodest waren ebenfalls "weißgrün" gestrichen, sowie das Geländer mit "Pfosten, Staketen (=Stäbe Red.) Handschiene und 2 Tritt". – Die Emporengalerie, gelagert auf rechts und links des Mittelgangs platzierten Holzsäulen, der Holzverschlag mit Tür des 12 stiegigen Holztreppenaufgangs zur Empore, Handlauf, Pfosten und Staketen waren ebenfalls farblich bearbeitet, genauso wie die Eingangstür mit Oberlicht. Letzteres war außen "holzgelb" gestrichen und gefirnist". Die Sandsteingewände der Eingangstür waren ebenfalls "holzgelb" gestrichen wie auch die außenliegenden hölzernen Dachgesimse.

Alle die genannten Malerarbeiten für Holzkonstruktionen, Sandsteingewände und sonstiges summiert Valentin Bauer zu einer Fläche von 78,40 m² und berechnet den Quadratmeter mit 20 Kreuzern. Neun Fenster waren innen und außen, also beiderseits, hell, holzgelb angestrichen. Die Krönung der Malerarbeiten fand jedoch in zwei außergewöhnlichen Tätigkeiten ihren Niederschlag: "….die Verzierungen am Schrank vergoldet……" und " ….die Schrift über der (Eingangs-) Tür "ausgefast" und eine solche am Schrank erneuert….".

3. Handwerksarbeiten im Nebengebäude, Mikwe und Abortanlage

Das durch den Gläubigen lebenslang zu nutzende "Ritualbad zur Reinigung der Seele", die Mikwe, hatte in den Zeiten vor 1900, bevor Badewannen, Duschen, WC`s in Privathaushalten sich langsam durchzusetzen begannen, auch einen generell hygienischen Nebeneffekt. Um die ca. vier Grad Wassertemperatur des ca. 150cm tiefliegenden Grundwassers mit einer Dimension von 80x80cm bei ca. 100cm Wassertiefe erträglicher zu machen, gab es in der Mikwe einen gemauerten Warmwasserkessel, dessen per Holzfeuer erhitztes Wasser entsprechende Verwendung fand, der aber auch, vor allem in der Winterzeit, eine angenehme Raumtemperatur herstellte. Sandsteinsstufen und der 12m² große Sandsteinbodenbelag der Mikwe führte zu dem, insbesondere in diesen Zeiten, nicht sehr tiefgelegenen Grundwasserspiegel.

Für eine gute Optik im Badhaus sorgten verputzte geweißte Decken und verputzte, blassgelb gestrichene Wände. Das einzige Fenster des Badhauses wurde gemäß Rechnung des Valentin Bauer, wie bei der Synagoge, "beiderseits holzgelb angestrichen" ebenso die Außentür in ihrem Sandsteintürgewände. Letztere war ebenfalls farblich identisch mit derjenigen der Hauptzugangstür an der Längsseite der Synagoge.

Nicht zuletzt wegen der in Mutterstadt praktizierten reformierten, liberalen jüdischen Glaubensrichtung und der Zunahme häuslicher Bäder wurde die Mikwe laut Werner Dellheim im 20 Jahrhundert nicht mehr genutzt. Neben der Mikwe, die im rechten Eckbereich des grenzständigen Synagogen-Nebengebäude plat-ziert war, gab es eine Abortanlage. Diese war innen in den gleichen Materialien und Oberflächen gehalten wie die Mikwe.

4. Rechtsgrundlage zum Betreiben der Synagoge und die Anforderungen an Rabbiner, Hilfskräfte und Lehrer. Das Edikt vom 8.10.1823

Die bis 1814 gültige fortschrittliche französisch-napoleonische Gesetzgebung, fortschrittlich deshalb, weil diese Gleichheit gegenüber Nichtjuden herstellte, wurde von der nur ein Jahr amtierenden gemeinsamen Verwaltung der Pfalz durch Bayern und Österreich 1815 und ab 1816 von dem allein die Souveränität ausübenden Königreich Bayern nicht angetastet.

Jedoch wollte verständlicherweise der bayerische König sicherstellen, dass in Synagogen und jüdischen Religionsschulen staatskonforme Meinungen gepredigt und entsprechendes Wissen vermittelt wurde. Dies hatte zur Folge, dass das "Konstitutionierende Edikt" vom 8.10.1823 "wegen der jüdischen Glaubensgenossen im Königreich Baiern" erlassen wurde.

Es beinhaltete, dass staatlich vorgegebene Lehrinhalte nur von staatlich geprüften und lizenzierten, das Abitur besitzende und mit einem Universitätsdiplom ausgestatteten Rabbinern beziehungsweise adäquat ausgebildeten Schullehrern vermittelt werden durften. Darüber hinaus mussten diesem Personenkreis auskömmliche, existenzerhaltende Gehälter, mindestens 450 Gulden pro Jahr (1823), zufließen.

5. Lebensumstände jüdischer Menschen im 19. Jahrhundert (ab 1871-1899)

Mit Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges (1870-1871) ist für die Mutterstadter Juden die Assimilation, also die Angleichung an das nichtjüdische dörfliche und nationale Umfeld abgeschlossen: sechs Juden aus Mutterstadt werden als Kriegsteilnehmer genannt.

Im Laufe des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts kommen jüdische Händler zu einem gewissen Wohlstand. Beispielsweise geht die Eppler-Familie in Husum/Norddeutschland genauso Viehhandelsaktivitäten nach wie in Nörtlingen, München und Mosbach.

Ferdinand Dellheim bringt es in der heutigen Schulstraße 18 zu einer Zigarrenfabrikation und Ludwig und Bernhard Löb bauen 1907 das noch heute schönste und höchste Wohn- und Geschäftshaus mit einer Eisenwarenhandlung in der Neustadter Straße.

Das Verhältnis zwischen dem jüdischen und dem nichtjüdischen Teil der Bevölkerung war geprägt durch Hilfsbereitschaft z.B. bei Synagogen- und Kirchenbauten oder -umbauten. Die vorurteilsfreie Grundhaltung der Mutterstadter Gemeinderäte das ganze 19. Jahrhundert hindurch war überwiegend geprägt durch die Gleichbehandlung aller Bevölkerungsteile. Das drückte sich beispielsweise aus durch die regelmäßig gewährten Gemeindezuschüsse u.a. auch für die israelitische Schule für Religionsunterricht, zunächst in Ecke Obere Kirchstraße/Rheingönheimer Straße bis 1831, dann ab 1832 in der Oggersheimer Straße, und ab 1870 bis 1915 im ehemaligen königlich-bayrischen Gefängnis, der heutigen Altentagesstätte in der Jahnstraße.

Letztlich ist noch darauf hinzuweisen, dass 1889 die jüdische Gemeinde ihren Friedhof einweihen konnte, nachdem ihre Toten bis 1822 in Wachenheim und danach in Fußgönnheim begraben wurden. Nach dem Kriege und der erfolgten Reichsgründung 1871 durch Bismarck im Schloss von Versailles bei Paris und vor der Währungsumstellung von Gulden und Kreuzer auf Mark und Pfennig 1876, bittet der hiesige Synagogenausschuss der Israelitischen Kultusgemeinde den Gemeinderat um einen Zuschuss für eine auf 1400 Gulden veranschlagte Großreparatur der 1838 errichteten Synagoge. 400 Gulden, zahlbar in zwei gleichen Raten, genehmigte daraufhin der Gemeinderat am 01.05.1871 mehrheitlich. Bemerkenswert dabei ist, dass 1871 ein Mutterstadter jüdischen Glaubens, Leo Löb, Gemeinderat ist, was ein Zeichen darstellt, wie assimiliert diese Bevölkerungsgruppe bereits zu diesem Zeitpunkt war.

Autor: Herbert H.W. Metzger, Jahrgang 1940, unternehmerisch tätig, amtierte von 1980-1990 als Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt. Im Rahmen von zwei Bürgeraktionen und dieser Publikation "Die ehemalige jüdische Gemeinde und ihre Nachkommen" engagiert er sich, das Unrecht, begangen an der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Mutterstadt und der Pfalz, aufzuarbeiten und vor allem die Jugend über das Schicksal des Pfälzer und Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteils zu informieren.

Quellen: B. Kukatzki, 1996 "Das Kriegerdenkmal für den Deutsch-Franz. Krieg 1870/71 in Mutterstadt"