3.1.8 Prof. Dr. Eyselein, die Ortschronik „Mutterstadt in Gegenwart und Vergangenheit“ und die ehemalige jüdische Gemeinde
- Eine Dokumentation über die Auswirkung einer Geschichtsverniedlichung -

Der Kolumnist Felix in der Südwestdeutschen Allgemeinen Zeitung.

Zusammen mit meiner Schwester und meinem Mann bin ich die einzige noch lebende und durch die Nazizeit betroffene Bürgerin in Mutterstadt mit jüdischen Wurzeln. Ich freue mich, dass Dr. Hüttel sich den Belangen der Mutterstadter, jüdischen Glaubens, dargestellt in der Ortschronik, in socher Sorgfalt annimmt. Er hätte dies besser schon einige Jahrzehnte früher tun sollen. Die angesprochene RHEINPFALZ-Veröffentlichung vom 25.Oktober beruht auf einem Redekonzept von Herrn Metzger, welches der RHEINPFALZ bei Veröffentlichung vorlag und das ich mir besorgt habe.

Ich erlaube mir, die Rede zu zitieren: "Seit 1722 wohnen zu Mutterstadt auch Juden, im 18. Jahrhundert nur in geringer Zahl, im 19. Jahrhundert bis auf 171 Personen ansteigend, dann wieder abnehmend, um im 20. Jahrhundert wieder aus dem Dorf zu verschwinden."

Metzger: "Verschwinden" heißt, dass man seinen eigenen Willen bestätigt, um sich von einem Ort zu entfernen. So war es aber nicht, wie sich jeder überzeugen konnte. Die 52 Juden, die 1940 noch da waren, wurden zwangsdeportiert, zur Ermordung fortgebracht und wenn es in Frankreich keine Netzwerke zur Rettung verschleppter Juden gegeben hätte, wären alle umgekommen. So sind wenigstens einige gerettet worden.

Metzger, die Orts-Chronik zitierend: "Das Schicksal der jüdischen Gemeinde Mutterstadt erfüllte sich wohl erst im Oktober 1940".

Metzger: Dies liest sich, wie wenn da eine überirdische Macht eingegriffen hätte. So war es aber nicht, denn die Macht, die eingegriffen hat, war irdisch und sehr brutal.

Metzger, die Ortschronik zitierend: …, dass von den nach Gurs deportierten wie den übrigen Auswanderern nach dem Krieg so mancher die Verbindung mit Mutterstadt wieder aufgenommen hat.

Metzger: Es fehlt hier der Hinweis, dass über zwei Drittel verhindert waren, weil sie in Auschwitz vergast worden sind, oder wegen der gesundheitsschädlichen Lagerbedingungen vorzeitig gestorben sind. Der Historiker Metzger hat sehr wohl genau gelesen, was sich in der Nazizeit, dargestellt in der Ortschronik, in Mutterstadt ereignete. Die haarspalterische Vorgehensweise von Dr. Hüttel, ob das jüdische Gemeinwesen "erloschen" ist oder wie es in der Chronik steht "…aus dem Dorf zu verschwinden", möchte ich gar nicht kommentieren. Wichtig ist mir die Gelegenheit die Schandpassagen der Chronik in voller Länge veröffentlicht zu sehen.

Ruth Külbs, geborene Dellheim
Pfalzring, Mutterstadt

Antwortschreiben des Bürgermeisters Hermann Belzner an die SAZ am 23.10.1967

Der Schwiegersohn des Ortschronikautors Prof. Dr. Eyselein nimmt diesen im Jahr 2000 bezüglich der in dessen Mutterstadter Ortschronik reklamierten Unvollständigkeit und beschönigenden Darstellung der Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde in Schutz. Diese Unvollständigkeit ist abgedruckt in der offiziellen Ortschronik "Mutterstadt in Vergangenheit und Gegenwart" welche 1938 erschien und 1967 erweitert wurde.

Eine vergleichbare, für Prof. Dr. Eyselein negativ ausfallende Bewertung der Ortschronik in Bezug auf die ehemalige jüdische Gemeinde wurde am 03.10.1967 in einer Kolumne der heute 2002 nicht mehr erscheinenden "Südwestdeutsche Allgemeinen Zeitung" vorgebracht.

So wie der Schwiegersohn 2000 nahm in Mutterstadt der damalige Mutterstadter Bürgermeister Hermann Belzner mit einer Gegendarstellung vom 23.10.1967 den Autor in Schutz.

Angestoßen durch die in den 1980er Jahren erfolgte Kontaktaufnahme zu den überlebenden Mitgliedern der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Mutterstadt seitens des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt, kamen die Meinungen der Opfer zu dieser Thematik an die Öffentlichkeit.

Dies mit einem negativen Urteil für die Darstellung des Professors. Es war Hermann Magin, ein gebürtiger Mutterstadter, ehemaliger Speyerer Stadtrat, 2002 in Speyer lebend, der in seinem Buch "Die Verfolgung der Mutterstadter Juden" in dezidierter Form auf die falsche, unvollkommene und verniedlichende Darstellung der Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde in der Ortschronik hinwies.

In einem ökumenischen Gottesdienst anlässlich der 60. Wiederkehr des Tages, an dem 52 Mutterstadter jüdischer Herkunft am 22.10.1940 in das südwestfranzösische Pyrenäenstädchen Gurs deportiert wurden, erfolgte in der vollbesetzten Protestantischen Kirche in einem Redebeitrag erneut der Hinweis auf diese unzulängliche Geschichtsdarstellung.

Den Gursopfern durch Nennung ihrer Namen im Rahmen einer Gedenktafel im Ehrenhof des Neuen Friedhofes wieder einen Namen, ein Gesicht, eine Geschichte zu geben, brachte in der Gemeinde eine kontroverse Diskussion über das Vorhaben in Gange. Diese beinhaltete auch den Fakt, dass der dazu herbeigeführte relevante Gemeinderatsbeschluss, den Opfern eine Namensgedenktafel zu widmen, nur mit drei Gegenstimmen bei vier Enthaltungen 2001 zustande kam.

Betrachtet man nun die Meinungen und Vorgehensweisen des Lehrers Eyselein in der nationalsozialistischen Zeit um 1938, des Prof. Dr. Eyselein in der Nachkriegszeit um 1968 sowie die Meinungen derjenigen Persönlichkeiten, die des Professors geschichtliche Darlegungen akzeptieren, relativieren oder gar bejahen, so fällt auf, dass dies in Widerspruch zu den Gefühlen und Meinungen der Opfer der Nationalsozialisten, u.a. Ernest Loeb, Ruth Külbs, geb. Dellheim, und Fred Dellheim steht.

Aus dem Blickwinkel des Jahres 2002 sind, bezogen auf dieses Verhalten zu dieser Thematik, mehrere Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zu ziehen:

  • Der Lehrer Heinrich Eyselein vor dem 2. Weltkrieg, sowie der Prof. Dr. Eyselein um 1967 und der ihn verteidigende Bürgermeister waren, wie wohl auch Hermann Magin und der Autor dieser Zeilen, die jeweiligen "Kinder ihrer Zeit" aus Überzeugung.
  • Begrüßte Eyselein 1938 die durchaus erfolgreiche und für die meisten Deutschen positiv erfahrbare "Neue Zeit" oder die "Nationalsozialistische Revolution" der Hitleranhänger, so ist dies in Anbetracht der damaligen schlechten Lebensumstände nachvollziehbar. Man wollte ein besseres Leben, man wollte teilhaben an dieser "Neuen Zeit".
  • Nimmt unser erfolgreicher und angesehener, professionell vorgehender Bürgermeister Hermann Belzner den Ortschronisten wegen seiner NS-Gläubigkeit in den 1930er Jahren in Schutz, verhält er sich um 1968 und davor so wie die meisten seiner damaligen Mitbürger: Man wollte das Unrecht vergessen und das Megaverbrechen in der 1200-jährigen Mutterstadter Geschichte, die Judendeportation, verdrängen, wenn gar ungeschehen machen.

Dazu sind zwei Beweise anzubieten: Es fanden bis in die 1980er Jahre keinerlei Gedenkveranstaltungen zu Gunsten der ehemaligen jüdischen Gemeinde statt, um begangenes Unrecht aufzuarbeiten, noch sagte die Ortschronik beispielsweise, dass ca. 33 Mutterstadter in den Vernichtungslagern und anderweitig zum Tode befördert wurden.

Hinweis: In vielen Fällen hätten der Chronist und der Bürgermeister dies im Gemeindearchiv nachlesen können.

  • Auch die heutigen "Unrechtsaufarbeiter" sind Kinder ihrer Zeit. Ausgestattet mit der "Gnade der späteren Geburt", wie Altkanzler Dr. Kohl dies formulierte, gehen diese an die Thematik heran im Wissen, dass sie von ihren Kindern und Enkeln gefragt werden, was sie eigentlich gegen NS-Mitläuferverhalten, Verdrängungskultur nach 1945 und für die Gefühle der NS-Opfer und ihrer Nachkommen unternommen haben. Zwischenzeitlich sind die Anstrengungen zur Aussöhnung eingebettet in eine deutschlandweite Gedenken- und Versöhnungskultur. ·
  • Um nun abschließend auf die drei Namensgedenktafel-Gegenstimmen bei vier Enthaltungen im Mutterstadter Gemeinderat 2001 zu sprechen zu kommen, ist als Begründung der Ablehnung sinngemäß hervorzuheben: Gedenkmaßnahmen müssen alle Opfer der NS-Diktatur berücksichtigen, nicht nur die Juden.

Dazu ist zu sagen, dass dies uneingeschränkt richtig ist.

Man muss allerdings bedenken, dass zum Zeitpunkt der Ablehnung einer Gedenktafel zu Ehren des ehemaligen jüdischen Bevölkerungsteils kein konkreter abstimmungsfähiger Vorschlag für andere NS-Opfer zur Abstimmung gestellt wurde.

Denn wollen Politiker im Jahr 2002 und im heutigen vereinigten parlamentarischen Deutschland bezogen auf eine notwendige Entscheidung "keine Farbe bekennen", dann verweist man die Angelegenheit in einen Ausschuss. Man lässt Ergänzungsgutachten anfertigen, schiebt es einer anderen politischen Entscheidungsebene zu oder lässt Alternativvorschläge erarbeiten.

Dies mit der sicheren Folge im Sinne einer Verschleppung der Angelegenheit bis zum Sankt Nimmerleinstag.

In diesem Sinne sind besagte Gemeinderäte auch "Kinder ihrer Zeit", wobei hinzuzufügen ist, dass diesen Räten kein Vorsatz in diesem Sinne unterstellt werden sollte.

Es ist nur so: Prof. Dr. Eyselein war im Jahre 1967 offensichtlich nicht in der Lage, für Mutterstadter Verhältnisse das Jahrtausendverbrechen 1940 als solches zu bezeichnen und für Mutterstadt als Chronist handelnd, Worte des Bedauerns und der Entschuldigung in Bezug auf die ehemalige jüdische Gemeinde zu finden.

Autor: Herbert H.W. Metzger, Jahrgang 1940, unternehmerisch tätig, amtierte v. 1980-1990 als Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e. V., Ortsgruppe Mutterstadt. Im Rahmen von 2 Bürgeraktionen und dieser Publikation "Die ehemalige jüdische Gemeinde und ihre Nachkommen" engagiert er sich, das Unrecht, begangen an der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Mutterstadt und der Pfalz, aufzuarbeiten und vor allem die Jugend über das Schicksal des Pfälzer und Mutterstadter jüdischen Bevölkerungsteils zu informieren.

Fotos und Sonstiges, sowie die dazugehörenden Texte, die Autoren-Kurzbiographie, sowie die Multiple-Choice-Fragen wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.
Quelle: Siehe Quellennachweis Titel 9 (Nr. 000)

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- Mehrere Antworten können richtig sein -

Wer hat die Ortschronik "Mutterstadt in Vergangenheit und Gegenwart verfasst?

 
Prof. Dr. Eyselein
 
der Lehrer Eyselein
 
Hermann Belzner

 

Wer gedenkt in Mutterstadt der ehemals hier wohnenden Juden?

 
verschiedene Autoren
 
die prot. und kath. Kirche
 
niemand

 

Wer fühlt sich in der Ortschronik in Bezug auf die ehemalige jüdische Gemeinde nicht richtig dargestellt?

 
alle Bürger in Mutterstadt
 
die NS-Opfer u.a. Ruth Külbs, Ernest Loeb, A. Dellheim
 
Bürger, die die Geschichte von Mutterstadt genauer kennen