5.3.2 Die Geschichte des Lager Gurs, die Ankunft der Badener und Saar-pfälzer Juden sowie die Lagerzustände
– Dr. Neter und O. Althausen, beide aus Mannheim, berichten -

Die Stadt Mannheim und die jüdische Gemeinde in Mannheim bemühen sich vorbildlich, auch im Jahr 2002, dem Schicksal der durch das NS-Regime verschleppten und ermordeten jüdischen Bürger, durch verschiedene Maßnahmen des Gedenkens Rechnung zu tragen. Hier eine Dokumentation des Schulverwaltungsamtes der Stadt. [000]

Der Ministerpräsident des Bundeslandes Rheinland-Pfalz besucht die Gedenkstätte und den Friedhof des Deportationslagers Gurs, Südwestfrank-reich. Zum Thema: Die 1940 im Lager dramatischen Lebensumstände aber auch menschenfreundliches Verhalten, beispielsweise des Arztes Dr. Neter werden unvergessen bleiben. Dafür sorgen nicht nur die Nachkommen der damaligen Opfer, wie Frau Kaiser, sondern auch anderweitige an Gerechtigkeit interessierte Bürgerinnen und Bürger u.a. in Mutterstadt. [000]

Der einstige Deportierte, Lagerinsasse und 2000 verstorbene Oskar Althausen, Jahrgang 1909, war Mitarbeiter in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Rhein-Neckar in Mannheim. Es zeigt ihn in Gurs anlässlich einer Gedenkveranstaltung 1999. [000]

Eine Baracke im Gurs-Nebenlager Rivesaltes, 1941, meist besser eingerichtet als diejenigen im Stammlager, wobei die Wachmannschaften jedoch strenger und brutaler waren. Zu beachten sind die an der Wand hängenden Brotsäckchen als Schutzmaßnahme gegen Ratten. Mehr als alle wissenschaftlichen Abhandlungen und Dokumentationen über das südwestfranzösische Lager Gurs können direkte Aussagen der Opfer vermitteln, und zwar in Bezug auf Transport, Lagerumstände und den physischen und psychischen Zustand der betroffenen Menschen. Dr. Neter und Oskar Althausen, beide aus Mannheim, sind ein Beispiel hierfür. Herr Althausen hat noch in seinem 80. Lebensjahr 1999 eine Studienreise nach Gurs begleitet und hat sich als Zeitzeuge zur Verfügung gestellt. [000]

Das Lager Gurs

Das südlich des Dorfes Gurs in der südwestlichen Ecke Frankreichs (Département "Pyrénées Atlantique") befindliche Lager wurde zu Beginn des Jahres 1939 für Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkrieges und der Eroberung Kataloniens durch die Truppen General Francos eingerichtet. Fast eine halbe Million Menschen flüchteten über die spanische Grenze nach Frankreich. Die französische Regierung ließ für die Flüchtlinge verschiedene "Auffanglager", so genannte "Centres d’Accueil", errichten, die allerdings nur provisorisch ausgestattet wurden, weil man an eine Stabilisierung und Normalisierung der Verhältnisse in Spanien dachte, so dass ein Großteil der Flüchtlinge hätte zurückkehren können.

Zwischen 5. April und Mitte Mai 1939 fanden sich bereits 18 985 Personen im Lager ein: Basken, Kämpfer ("miliciens") aus der zerschlagenen republikanischen Armee oder den Milizen, andere Spanier sowie fast 6000 "Freiwillige" verschiedener Nationalitäten, die in der Internationalen Brigade auf Seiten der Republikaner gekämpft hatten, unter ihnen über 700 Deutsche, darunter wiederum der Mutterstadter jüdischer Herkunft Max Loeb. Die Départementverwaltung war bestrebt, die Zahl der Lagerinsassen möglichst schnell zu verringern. Der Präfekt ermutigte manche zur Rückkehr und konnte vielen Männern Arbeitsplätze in der Region verschaffen. Andere schlossen sich nach der Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland (03.09.1939) der Fremdenlegion oder sonstigen besonderen Armeeabteilungen an. Manche wurden in verschiedenen "C. T. E." ("Compagnies de Travailleurs Etrangers" = Arbeitseinsatzgruppen für Ausländer) aufgenommen. Ende April 1940 lebten nur noch 2293 Flüchtlinge im Lager Gurs.

Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich internierte die französische Regierung die seit 1933 aus Deutschland und seit März 1938 aus Österreich in Frankreich lebenden, vor allem jüdischen Flüchtlinge als "feindliche Ausländer". So kamen im Mai und Juni 12 680 Personen nach Gurs, darunter überwiegend Frauen und Kinder. Ein Teil von ihnen durfte das Lager nach dem Waffenstillstand wieder verlassen, "sofern sie einen Wohnsitz nachweisen konnten und über ausreichende eigene Mittel verfügten, sich selbst durchzubringen. Viele von ihnen holte das Schicksal jedoch wieder an diesen oder an ähnliche Orte des Schreckens zurück".

Die Ankunft der Badener und Saarpfälzer in Gurs

Am 24. und 25. Oktober 1940 trafen die ca. 6500 Frauen, Männer und Kinder auf dem Bahnhof von Oloron-Sainte-Marie ein. Viele mussten noch lange in den Zügen verbleiben und warten, "da die wenigen vorhandenen Lastwagen die vielen Leute im Pendelverkehr nach Gurs transportieren mussten". Über die Fahrt von Oloron nach Gurs und die Ankunft im Lager berichtete der Mannheimer Kinderarzt Dr. Eugen Neter (1876-1966):

"Spät nachmittags kamen wir in Oloron an, von wo uns Camions in kurzer Fahrt ins Camp de Gurs brachten. Es regnete. Der größte Teil des Gepäcks wurde gesondert gefahren. Dies brachte bedauernswerte Schwierigkeiten insofern, als es viele Wochen dauerte, bis es gelungen war, den Eigentümern ihre Koffer und sonstigen Habseligkeiten aus dem zu einem hohen Berg aufgestapelten Gepäck auszusuchen. Viele Sachen blieben vermisst; bei vielen konnten die Besitzer nicht ermittelt werden. Besonders schmerzhaft waren jene Verluste, die dadurch entstanden, dass das Gepäck im Freien lag und dem Regen ausgesetzt war.

Es war bereits dunkel geworden, als die Autos vor den Ilots (Blocks) hielten. Da standen sie, die Unglücklichen, die Vertriebenen nun bald in den Baracken, die ihre Unterkunft werden sollten auf unbestimmte Zeit. Werden es Monate, Jahre sein? Vom Regen durchnässt, frierend, von der langen beschwerlichen Bahnfahrt erschöpft, schauten sich die Menschen in den leeren Baracken nach einer Möglichkeit um zum Sitzen oder zum Liegen. Keinerlei Sitzgelegenheit bot sich ihnen. Am Boden Strohsäcke oder Stroh oder gar nichts! Auf ihrem Gepäck sitzend – soweit sie solches hatten – verbrachten viele, darunter über 70- und 80-jährige Männer und Frauen, diese erste Nacht im Camp, körperlich und seelisch zerrüttet".

Über die Situation in Gurs, die katastrophalen hygienischen Zustände und die mangelhafte Verpflegung liegen zahlreiche weitere erschütternde Briefe und Augenzeugenberichte vor. Der Beauftragte einer Schweizer Hilfsorganisation, R. Olgiati, der am 16. Januar 1941 das Lager Gurs besuchte, fasste seine Eindrücke unmittelbar nach seinem Besuch in einem ausführlichen Bericht zusammen:

"Die niederen Holzbaracken sind von primitivster Bauart, mit undichten Wänden, durchlöchertem Boden. Ursprünglich hatten sie keine Fenster und auch jetzt besitzen nur wenige diesen Luxus, so dass die Insassen sich den ganzen Tag in völliger Dunkelheit befinden, nur abends werden während einiger Stunden die vorhandenen spärlichen elektrischen Lampen unter Strom gesetzt. Die wenigen Waschgelegenheiten befinden sich außerhalb der Baracken und sind sehr oft defekt, während der Kälte eingefroren. Die W. C. befinden sich ebenfalls außerhalb der Baracken und sind halb offene Verschläge mit Kübeln, wie sie auf Bauplätzen zu sehen sind. Das allerschlimmste ist der Lehmboden, der durch die vielen Regenfälle dieser Gegend und durch das viele Begehen in ein Schlamm-Meer verwandelt wurde, das vielfach ganz unpassierbar ist und das bewirkt, dass das Herausgehen aus den Baracken für die Alten und Schwachen zur Unmöglichkeit wird. Die aus dieser Tatsache folgenden gesundheitlichen und hygienischen Zustände sind unbeschreiblich.

Wer auf Lagerkost allein angewiesen ist, der geht mit Sicherheit in wenigen Monaten zugrunde. Die tägliche Nahrung enthält nach ärztlicher Berechnung rund 800 Kalorien (wobei ein nichtarbeitender Erwachsener normalerweise über 2000 Kal. benötigt) und besteht aus 300 Gramm Brot, 60 gr. Fleisch (inkl. Knochen) und zweimal täglich dünne Suppe aus Mohrrüben oder spärlichen Nudeleinlagen. Bei einer großen Anzahl von Todesfällen (vom 1. November bis Mitte Januar über 600, d. h. ca. 5% der Lagerinsassen) konnten die Ärzte nichts anderes feststellen als Unterernährung. Es ist zuzugeben, dass eine größere Anzahl älterer Leute gestorben sind. Eine Dysenterieepidemie und die außerordentliche Kälte forderten auch ihre Todesopfer. Die Ärzte sind gegenwärtig stark beunruhigt, weil sie trotz einer Autopsie eine z.Zt. gespenstig auftretende Hirnkrankheit nicht erklären können. Die Autopsie konnte schon deshalb kein befriedigendes Ergebnis zeitigen, weil trotz Forderung seitens der Lagerärzte (alle Internierte, z.T. Professoren und bekannte Kapazitäten) eine genaue mikroskopische Untersuchung nicht durchzusetzen war. Von dieser Krankheit werden hauptsächlich jüngere, intellektuelle, außerordentlich stark verlauste und abgemagerte Menschen befallen.

Der 1919 in Lampertheim geborene, von Mannheim aus nach Gurs deportierte Oskar Althausen äußerte sich über die in Gurs angetroffenen Verhältnisse:

Wasser lief nur stundenweise und war, worauf man uns ausdrücklich hinwies, nicht trinkbar. Die Küche mit ihren großen Kesseln war mehr als primitiv. Aber das Schlimmste war der Schlamm, der vor allem zwischen den "Frauen-Blöcken" sehr tief war. Sie haben vielleicht schon die Bilder von Lagerinsassen gesehen, die bis an die Hüften in diesen Schlamm eingesunken waren. Hinzu kam, dass auch der Weg zu den Latrinen, um diese "Installationen" vornehm zu benennen, ebenfalls völlig verschlammt war. Es waren also nicht allein der Hunger, sondern vor allem diese furchtbar schlechten sanitären Verhältnisse, die dazu führten, dass alsbald eine Ruhrepidemie ausbrach, die innerhalb weniger Tage und Wochen Hunderte dahinraffte.

Die von der Lagerverwaltung ausgeteilte Verpflegung war einfach furchtbar. Sie bestand meist aus diesen berühmten Wassersuppen, in denen ein paar Kichererbsen herumschwammen oder einige Rübenstücke und ganz gelegentlich eine minimale Ration Fleisch. Kartoffeln bekamen wir damals überhaupt nicht. Morgens gab es eine schwarze Brühe, von Kaffee-Ersatz zu sprechen, wäre schon übertrieben. Daneben erhielten wir unsere Brotrationen, die jedoch bald immer kleiner wurden. Am Anfang teilte man einen Laib Brot, der so ungefähr zwei Kilogramm haben sollte, unter sechs Personen auf, später dann unter acht und ab Ende 1943 verschlechterte sich das Verhältnis nochmals. Diese offizielle Ernährung war völlig unzureichend. Und hätte es im Lager keinen "marché noir", keinen "Schwarzmarkt" gegeben mit Lebensmitteln, die von draußen hereingebracht wurden, wäre die Zahl der Opfer noch größer gewesen".

Autor: Roland Paul, Jahrgang 1951, ist stellvertretender Direktor des Instituts für pfälzische Geschichte und Volkstum in Kaiserslautern. Paul ist anerkannter Fachmann u.a. für die Thematik Emigration und Deportation des jüdischen Bevölkerungsteils aus Südwestdeutschland in das südwestfranzösische Lager Gurs 1940. Der Autor hat u.a. in dieser Hinsicht umfangreich publiziert und berät u.a. die Rheinland-Pfälzische Landesregierung. Er pflegt gute Kontakte zum Leo Baeck Institut in New York und auch zu zahlreichen jüdischen Emigranten in der ganzen Welt.

Fotos und Sonstiges, sowie die dazugehörenden Texte, die Autoren-Kurzbiographie, sowie die Multiple-Choice-Fragen wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.
Quelle: Siehe Quellennachweis Titel 9 (Nr. 000)

Für Schulen: Multiple-Choice-Fragen zu dem oben stehenden Artikel

- Mehrere Antworten können richtig sein -

Für welchen Personenkreis wurde ursprünglich das in der Nähe der spanischen Grenze gelegene Lager Gurs erbaut?

 
Flüchtlinge des spanischen Bürgerkrieges 1936-39
 
für Kriegsgefangene der Franzosen im spanischen
 
für arbeitsscheue Franzosen Bürgerkrieg

 

Wann kamen die Mutterstadter jüdischer Herkunft in Gurs an?

 
1939
 
Oktober 1940
 
Dezember 1941

 

Ab wann wurden die Mutterstadter im Lager Gurs in das in Polen gelegene Vernichtungslager Auschwitz abtransportiert?

 
1941
 
nach der Wannsee-Konferenz Januar 1942
 
ab Sommer 1942