6.2.5 Lebensweg des Werner Dellheim und ein Interview, Ocala, Florida, USA 1994
– Die erstaunliche Karriere eines Mutterstadters in einer fremden Welt -

Das Foto zeigt von links nach rechts Kurt Düppel, den Archivar der Gemeinde Mutterstadt, dessen besonderes Interesse u.a. auch der Geschichte der Familien der ehemaligen Mutterstadter jüdischen Gemeinde gilt. In der Mitte ist der damals 70 Jahre alte Werner Dellheim zu sehen (1994). Herbert Metzger ist Gründungsvorstand des Historischen Vereins der Pfalz e.V., Ortsgruppe Mutterstadt. Die Aufnahme entstand während eines Interviews mit Werner Dellheim, bei dem auch im Rahmen einer Ortsbegehung sämtliche ehemaligen jüdischen Anwesen aufgesucht und die Geschichte ihrer jüdischen Bewohner festgehalten wurde. Im Hintergrund: das Neue Rathaus von Mutterstadt.

Lebensdaten und Anmerkungen des Werner Dellheim. Auszüge aus einem Interview in Mutterstadt vom 29.09.1994 mit Herbert Metzger.

Dellheim: „Meine Urgroßmutter, nicht meine Großmutter, namens Rosa Marx, die war von Haßloch und dann hat sie von Fußgönheim meinen Urgroßvater geheiratet, der Simon Marx hieß. 1870/71 fiel er. Er war noch jung, mein Urgroßvater, als er sterben musste. Der steht draußen auf dem Denkmal im Friedhof. Dann war meine Urgroßmutter alleine, als Witwe, und hat die Wirtschaft „Zur Linde“ gehabt, bis mein Großvater ca. 25 Jahre alt war und dann sein Getreidegeschäft begonnen hat. 1895/1897 zog er um in die Speyrer Straße 36 und begann dort den Getreidehandel. Aber dort hat auch sein Onkel gewohnt, wo die Metzgerei war – in dem Haus direkt. Sein Onkel hieß Sigmund Marx, das wissen die meisten nicht, dass dort eine jüdische Metzgerei war. Man hat dort koscher geschlachtet, aber auch anders. Mein Großvater hat dort dann die Getreidehandlung angefangen und das lief sehr gut, bis 1936 war er ein großer Mann, der Theodor Marx“…

Dellheim: Mit den katholischen Bürgern in Mutterstadt gab es keine Schwierigkeiten im Hinblick auf das Zusammenleben, während der Hitlerzeit. Mit den katholischen Bürgern hat man nicht viele Probleme gehabt. Ein Katholik hätte auch nie was gemacht – irgendwas zusammengeschlagen – aber mit den Protestanten war das etwas anderes.

Dellheim: Bis 1933 war die SPD ziemlich stark gewesen. Mein Vater und ich waren jede Woche einmal abends draußen in der Sporthalle (H.d.V.: Gegenüber der alten TSG-Turnhalle auf dem Messplatz) – es war voll, von hinten bis vorne. Nur Sozialdemokraten. Da war mein Vater dazwischen, wie ich jetzt mit dir sitze. Es gab kein Wort, Jude oder Nichtjude, gar nichts…

Dellheim: Als die katholische Kirche eingeweiht worden ist, war mein Großvater eingeladen. Er war nämlich Vorstand der jüdischen Gemeinde hier. Er war einer der ersten gewesen. Sie sind mit dem Pfarrer vorne gelaufen. Da war mit den Hitlern noch gar nichts. Wenn man 1933 jemandem gesagt hätte, in fünf Jahren bist du im Konzentrationslager oder du bist nicht mehr hier, die hätten dich ausgelacht. Die hätten gesagt, das gibt es nicht. Natürlich wurde es dann doch auf einmal schlimmer. Die haben die Leute angezeigt, die mit den Juden geredet haben…

Dellheim: Die sind dann noch in die jüdische Schule hier in Mutterstadt gegangen und mein Großvater ist in die Lateinschule gegangen. Die war da hinten, wo das Arrestegässl (H.d.V.: Jahnstraße, jetziges Haus der Senioren) war und die Grundschule war an der katholischen Kirche. Meine Mutter ist noch da reingegangen. Die anderen, die jüngeren Nachkommen von meinem Großvater, sind meistens auf die Realschule gegangen, die war in Ludwigshafen. Der Ernest Löb ist auch auf die Realschule gegangen…

Dellheim: Ich bin hier bis in die 8. Klasse gegangen, dann bin ich nach England. Die englische Schule war nicht viel wert, man hat meistens Englisch gelernt und sonst nichts. Aber so lange ich in England war, das war für mich mehr wert, als vier Jahre in der Schule. Du hast viel gelernt über die Welt, über das ganze Leben, über England. Das, was ich in Buenos Aires gelernt habe, entspricht hier etwa zwei oder drei Jahren Sonntagsschule/Fortbildungsschule. Dann waren wir im Landesinnern gewesen, haben viel gelernt, sind nach Buenos Aires, haben viel gelernt über die Welt, über Politik und alles mögliche. Das ist für mich mehr wert gewesen, als wenn ich noch ein Jahr in Mutterstadt auf die Schule gegangen wäre…

Dellheim: Dann haben sie mich zum Militär eingezogen. Zur Infanterie, da war ich in Washington (Staat). Das war 1949, dort war ich 6 Monate. Es war Friedenszeit, vor dem Korea-Krieg. Sie wollten Geld sparen und haben gesagt, dass sie keine Armee mehr brauchen und haben die Hälfte nach Hause geschickt. Ich wäre vielleicht dabei geblieben, aber ich habe meine Eltern dabei gehabt, die ich ernähren musste. Meine Eltern waren schon in Chicago, die sind von Argentinien nach Amerika gekommen, sie haben mit mir zusammen in Chicago gelebt.

Um Werner Dellheim, geb. am 29.06.1924, als Persönlichkeit zu begreifen, muss man zunächst das Mutterstadter Umfeld, in dem er seine Kindheit verbrachte, beschreiben. Wie die meisten jüdischen Familien lebte auch der Pferdehändler Jakob Dellheim mit seiner Frau Hedwig, geb. Marx, und ihrem Sohn Werner im Mutterstadter „Oberdorf“ in der Speyerer Str. 36.

Alle diese Familien hingen dem liberalen jüdischen Religionsritus an und waren ohne Ausnahme fleißige, geachtete, ins Dorfleben in jeder Hinsicht integrierte Bürgerinnen und Bürger. Dies solange bis die Nationalsozialisten, ab 1933 auch in Mutterstadt, an die Macht kamen.

In einem Interview am 29.09.1994 gibt Dellheim äußerst aufschlussreiche Hinweise zu Mutterstadt in der nationalsozialistischen Zeit. Als 15-Jähriger konnte Werner im Januar 1939 auf Einladung der englischen Regierung unter Premierminister Chamberlain per „Kindertransport“ ab Ludwigshafen mit dem Zug via Hoek van Holland nach London ausreisen. Nach einigen Monaten Aufenthalt und Schulbesuch ging es weiter nach Argentinien, wo er sich wieder mit seinen zwischenzeitlich nach dorthin ausgewanderten Eltern vereinigen konnte. Die Familie fand ein Unter- und Auskommen auf der von dem jüdischen Philanthropen Baron Hirsch seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu Gunsten von jüdischen Flüchtlingen betriebenen Finka „Avictor“ im Landesinnern von Argentinien. Deutsch war die Umgangssprache vieler der oft heimwehkranken jüdischen Flüchtlinge, die sich mit Rinder- und Pferdezucht sowie Landwirtschaft befassten und familienbezogen jeweils einzelne Häuser bewohnen konnten.

Dellheim: „Du hast 20 Kühe und 10 Pferde und 300 Morgen Ackerland bekommen“.

In Buenos Aires konnte der ehemalige Realschüler eine berufsbildende Geschäftsschule besuchen. Zusammen mit der in London erlernten englischen Sprache konnte der zwischenzeitlich Spanisch sprechende Werner, ergänzt durch Ersparnisse u.a. aus einer Tätigkeit als Sackträger im Hafen von Buenos Aires, nach 9-jährigem Aufenthalt in Argentinien, als 24-Jähriger, die Übersiedlung nach Chicago, Illinos, USA vornehmen.

Sein Onkel, der dort eine große Metzgerei betrieb, suchte einen Nachfolger.

Dellheim: „Ich lernte den Beruf des Metzgers, vervollkommnete mein Englisch, verließ aber nach einem Jahr meinen Onkel“.

Als Manager einer Fleischabteilung eines großen Supermarktes blieb er in Chicago. Zwischenzeitlich hatte er seine aus der Dannstadter Straße in Mutterstadt stammende, 1939 geborene Frau Alma, geb. Grübel, geheiratet, diese nach Chicago gebracht um sich dann 1963/64 selbstständig zu machen. Das Fach: Hotelier in Chicago.

Dellheim: „Nach 20 Jahren, 1980, mit 56 Jahren bin ich dann nach Ocala, Florida, gegangen auf die zwei Jahre zuvor gekaufte Ranch, mit der Absicht mich zurückzuziehen, wo ich mit Alma und meinem Sohn Norman und dessen Frau Peggy noch heute wohne“.

Dellheim weiter: „Als ich in Chicago mein Geschäft verkauft hatte, habe ich zuerst gedacht, ich höre auf: Ein oder zwei Pferde, Reiten usw. Als ich aber dort in Ocala, in dieser berühmten Vollblutpferdezuchtregion, die Pferdeauktionen miterlebt hatte, habe ich Pferde, eines nach dem anderen, gekauft. Jetzt sind es 27. Viel zu viele….!“

Werner Dellheim ist, auch mit Hilfe seiner Familie, zusammen mit seinem Sohn Norman ein erfolgreicher Pferdezüchter und -händler geworden.

Ein Nathan Delheim wird 1722 als Pferdehändler, im kurpfälzischen Mutterstadt wohnend, genannt. Zehn Jahre später ersteigert ein Nathan Delheim im Zentrum von Mutterstadt ein Anwesen, auf dem etwa 100 Jahre später 1838 die erste und 1904 die zweite Synagoge errichtet wird. Der Sohn Norman wird wohl im Jahr 2022 in 300-jähriger Familientradition als Pferdehändler immer noch diesen Beruf ausüben.

Erwähnt man noch den zweiten Sohn Ralph, ein Flugzeugingenieur, seine Frau Justina und die insgesamt drei Enkelkinder (2002), dann ist das Familienglück im fernen Florida treffend beschrieben.

Und was spielen „die Mutterstadter“ im Jahr 2002 im Leben des Werner Dellheim für eine Rolle? Neben familiären Kontakten zu Ruth und Rudi Külbs, freundschaftlichen Kontakten zur Schreinerfamilie Brigitte und Roland Strub in Dannstadt wird er der Innenarchitektin Sibylle Metzger helfen, die ehemalige Mutterstadter Synagoge virtuell zu rekonstruieren.

Denn: Werner hat ein phänomenales Gedächtnis. Er erinnert sich noch an das eine oder andere Detail dieses Bauwerkes aus seiner Kindheit.

Autor: Werner Dellheim, Jahrgang 1924, kommt im Rahmen eines Interviews zu Wort. Ausgestattet mit einem phänomenalen Gedächtnis ist er ein Zeitzeuge, der jüdische, innerörtliche, familiäre, ortspolitische Zusammenhänge der NS-Zeit bestens erklären kann. Werner Dellheim verheiratete sich 1957 mit der Mutterstadter Nichtjüdin Alma, geb. Grübel, hat zwei Kinder und lebt in Ocala, Florida, USA.

Fotos und Sonstiges sowie die dazugehörenden Texte, die Autoren-Kurzbiographie sowie die Multiple-Choice-Fragen wurden durch den Herausgeber zusammengestellt.
Quelle: Siehe Quellennachweis Titel 9 (Nr. 000)

Für Schulen: Multiple-Choice-Fragen zu dem oben stehenden Artikel

- Mehrere Antworten können richtig sein -

Wie lebten jüdische und nichtjüdische Familien bis 1930 also vor der NS-Herrschaft zusammen?

 
in Eintracht und gleichberechtigt
 
vollkommen in das dörfliche Leben integriert
 
Juden lebten in Ghettos also getrennt von Nichtjuden.

 

Die Familie Dellheim wanderte nach Argentinien aus. Wie verdiente sie den Lebensunterhalt?

 
als Viehzüchter
 
als Landwirte
 
Sie arbeiteten in einer Fabrik.

 

In Florida gibt es ein berühmtes Pferdezuchtgebiet. Wie heißt die Hauptstadt dieser Region?

 
Ocala
 
Orlando
 
Miami